Minimalistische Kunst im Herbstlicht |
Die sanitäre Lage in Deutschland ist Schreiße, 50.000 Neuinfektionen an einem Tag, die Intensivstationen laufen langsam zu.
Schreiße — wir Dolmetscher:innen verwenden solche Wörter normalerweise nicht, denn wir sind verbale Leisetreter, sprechen immer schön und überaus gewählt, ganz so, als stünden wir die ganze Zeit auf cosy Hochflorteppichen, die hinter hundert Bergen von zarten Kinderhänden geknüpft wurden und in den Salons der Hauptstadtrepräsentanzen von Wirtschaft und Politik liegen. Sagen wir's mal so: Solche Milieus prägen. Dass wir im dolmetschenden Berufsalltag grobe Wörter immer weniger grob wiedergeben in der Übertragung, ist häufig Selbstschutz.
Denn wenn sich die Herren (also meistens sind es Herren) am Ende wieder vertragen, möchten ja, wir als Überbringerinnen dieses hässlichen Vokabulars ja nicht vom Hof gejagt werden. "Hof" ist hier auch das Stichwort, dieses Gebahren (einfacheres Wort dafür: Verhalten) stammt aus höfischen Tagen. Höfisch und höflich klingen nicht zufällig ähnlich.
... bunt und in Farbe |
Verdammte Hacke, die aktuellen Fallzahlen sehen alles andere als gut aus. Wenn unsereiner dann doch mal böse Wörter loswerden muss, behilft er oder sie sich gern mit Zitaten. Das "Schreiße" da oben stammt vermutlich vom Übersetzerpaar, das Alfred Jarrys Ubu Roi übertragen hat. In diesem Theaterstück schreit ein kleiner, nerviger König immer wieder laut merdre, also die französische Entsprechung mit dem reingeschmuggelten "R".
Noch ein Zitat: Ich winke rasch den Radiologen Frank Ulrich Montgomery auf die Bühne, Ehrenvorsitzender der Ärztegewerkschaft Marburger Bund. Er hat kürzlich zur Lage gesagt: "Wir werden von ein paar lauten Vollidioten in Geiselhaft gehalten."
König Ubu ließ immer alles im großen Loch verschwinden, hinter oder unter der Falltür / Klappe / Versenkung mit einem donnernden: "À la trappe !" Das würde ich jetzt am liebsten der Pandemie angedeihen lassen. Hinfort und weg mit ihr! Die Nase voll!
In Sonderheit auch von jenen, die die Pandemie gerade anfeuern, durch Impfverweigerung, Karneval und Kollektivbesäufnisse und damit durch die weitere Fallzunahme das Ausbrüten einer neuen Variante fördern. Wer macht sowas? Leute mit Festanstellung und bestem Rentenanspruch, fürchte ich. Keine freiberuflichen Übersetzerinnen und Dolmetscherinnen. Uns, die wir in der Politik und im Forschungs- und Messebereich arbeiten, zieht man erneut den Boden unter den Füßen weg.
Merkwürdigerweise zeichnen sich deutschsprachige Länder gerade als Herde der Impfverweigerung aus. Ausländische Presse wie die Financial Times berichtet darüber. Mir treibt das Schamesröte ins Gesicht. Was für ein Schlag in die Magengrube fürs medizinische Personal, das jetzt seit 21 Monaten kämpft! Sicher gab es auch Ruhemomente, auch nicht überall ist Krise, aber die Abnahme der Intensivbetten durch den Ausstieg von Pflegekräften kam ja auch nicht von ungefähr.
Die Liste der möglichen Neuvarianten von Covid-19 ist noch lang, das griechische Alphabet bietet alsdann Epsilon, Zeta, Eta, Theta, Iota und etliche mehr. (EDIT: Andere Länder sind schon bei Lambda!) "Welches Schweinderl hätten's denn gern?", fragte Robert Lembke, der berühmte Talkmaster des deutschen Fernsehens, in den 1970ern. Welchen Buchstaben soll die gerade in Deutschland wahrscheinlich erbrütete denn Variante tragen?
MERDRE!
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Foto: C.E. (besser s/w oder bunt?)
2 Kommentare:
In anderen Ländern gibt es bereits andere Virusvarianten bzw. -mutanten. Wir sind bereits bei "Lambda".
Danke für diese Ergänzung! Irgendwie hatte ich das schon mit halbem Ohr gehört, war die letzten Wochen auf anderes konzentriert. Aber das Alphabet ist ja noch lang ... *Sarkasmus aus*.
Gruß ... und gesund bleiben/werden!
CE
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