Freitag, 11. September 2020

COVIDiary (153)

Die künstlerische Arbeit an Texten und Filmen konnte ich jahrelang mit dem Dol­metsch­business querfinanzieren. Das Ferndolmetschen ist eine Option für die Lebensgrundlage der kommenden Monate, indes: Es gibt nur eine geringe Nach­frage. Es ist auch umständlicher, anstrengender. Manchmal ist indes es ganz leicht, sich die neue Arbeitsweise vertraut zu machen.

Fenster, Leiter zum Hochbett, Spiegel, schmales Fenster, Tisch und Stuhl, Computer mit Kopfhörer, rechts angeschnitten der Ärmel einer Anzugjacke
Eingerahmt zwischen Hochbettleiter und Anzugjacke
Fast ein normaler Arbeitstag: Am Morgen dolmetsche ich eine kurze Videokon­ferenz im Kon­se­ku­tiv­mo­dus. Hier dis­ku­tie­ren zwei Herren aus dem Bereich Werks­küchen und Gas­trono­mie über neu­e Pro­jek­te miteinander. Wäh­rend ich in der Kleider­kam­mer in Berlin auf einem höl­zernen Kino­klapp­stuhl sit­ze, sind die bei­den in ihren Bü­ros in Dres­den und in Reims.

Das sind zwei Städte, die mir von Kindesbeinen an vertraut sind, anfangs nur dem Klang der Städtenamen nach. Meine Vorfahren aus der sächsischen Garn­dy­nas­tie waren regelmäßig an beiden Orten, wir haben alte Fotografien, Postkarten und Briefe aus den Städten im Archiv, in der Verwandte auch Gebäude hinterlassen haben, waren immer wieder vor Ort. Auch das macht mir das Setting irgendwie vertraut.

Ich bin froh, dass ich als Studentin in meiner année de mise à niveau, dem Vor­kur­sen in französischer Sprache und Landeskunde während des erstens Studienjahrs, auch einige Seminare "Französisch für Wirtschaft und Handel" absolviert zu ha­ben. Die Grundbegriffe sind mir so vertraut, dass sich fast ein wohliges Gefühl einstellt, als hätte ich als Kind im Kontor meiner Ahnen in der Ecke gesessen und ihnen beim Spielen zugehört. Das hab ich in der Tat nur im unwahrscheinlichen Fall, wenn ich eine Zeitreisende sein sollte. Doch Zeitreisenden fehlt bekanntlich ein Teil des Gedächtnisses, wie schon jedes Kind weiß, so dass ich es nicht be­stä­ti­gen kann.

Epigenetik mal wieder. Das gleiche Gefühl stellt sich ein, wenn ich alte Stoffe von höchster Qualität in der Hand habe. Oder im Garten zugange bin. Oder abends Pflanzen bestimme, die sich im Hofgärtchen selbst ausgesät haben.

Inzwischen ist mir auch das Onlinedolmetschen sehr vertraut, voraus­gesetzt, ich kenne die Beteiligten. Die beiden Herren durfte ich schon am Anfang ihrer Zu­sam­men­arbeit vertonen, als ich noch keinen von ihnen persönlich kannte. Dabei war die Stim­mung eher un­ent­spannt, ein Stres­sor für mich als Dolmetscherin. Ich habe damals versucht, so cool wie möglich zu sein, mich wenig emotional darauf ein­zu­las­sen. Dolmetschen, das Vorwegnehmen dessen, was kommt, wenn das deutscher Verb wieder mal auf sich warten lässt, funktioniert aber mit Iden­ti­fi­ka­tion, mit "Einschmiegen" und Spie­gel­neu­ronen. Ich sehe hier einen Wi­der­spruch. Hinzu kommt beim Fern­dol­met­schen die Sorge um die Technik, das Jong­lieren mit ver­schluck­ten Silben und Echo.

Jetzt, nachdem wir im Hochsommer zwei Tage gemeinsam auf Dienst­reise waren, ist das völ­lig anders, alle mögen sich, die Arbeit fällt mir leicht. Ich sitze heute in meiner Kleiderkammer mit Hochbett, auf dem regel­mäßig Gäste näch­ti­gen. Dort ist ein Arbeitsplätzchen eingerichtet, an dem sich ruhig sitzen lässt. Zur Straße hin ist es heute zu laut, die einfache Sprecherbox reicht nicht aus, um ener­vier­te Hu­pen und die Rangier­geräusche vor dem Haus wegzu­filtern. Die Me­ga­kreu­zung am Staßenende wird seit wenigen Tagen umgebaut, ist komplett ge­sperrt. Und freitags ist ja immer Wo­chen­markt ... (Wo sind die Ein­bahn­stra­ßen­schilder?!)
 
Später geht es an den nächsten Arbeitsplatz. Dort schreiben, korrigieren und for­mu­lieren eine Nachbarin und ich, suchen Fotos aus, lektorieren. Über den Hof hö­ren wir die Stimme von A., meiner Mitgärtnerin, die jetzt ihre Telko hat. Plötz­lich ist un­ser Haus ein Großraumbüro! Das hätte die alte Eigentümerschaft, als sie un­ser Mietshaus zu Sommeranfang an einen Immobilienkonzern verscherbelt hat, sicher nicht im Sinn, dass wir jetzt alle noch näher aneinanderrücken.

Happy drücken wir lange vor der Einreichungsfrist auf den Sendeknopf. Wir nehmen an einer Aus­schreibung um Corona-Stipendien des Berliner Senats teil. Künstlerinnen und Künstler in Berlin sind wie andre Solo-Selbständige in Coronazeiten auf "Hartz IV mit abgesenkter Zugangsschwelle" verwiesen worden.

In den Regelungen zur Grundsicherung sind allerdings Aktien- oder andere An­la­ge­for­men fürs Alter gegenüber z.B. der Riesterrente schlechtergestellt, denn nur be­rufs­­stän­­dische Vor­sor­ge­program­me (die meine Bran­che nicht kennt) und Spar­pläne wie Riester gelten als "echte" Rücklage fürs Alter, während die anderen Rücklagen vor Antragstellung bitteschön erstmal aufzubrauchen sind, was nicht nur Altersarmut pro­gram­miert, sondern grund­sätz­lich altersrassistisch ist, haben junge Leute doch meistens erst geringere Summen zurückgelegt. Und nochmal, weil in den Kom­men­tar­spal­ten der Gazetten besonders viel Häme gegen uns Freiberufler ausgeschüttet wird: Eine solche Pandemie war weder für Selb­ständige und Künstler versicherbar, noch kommt unsereins in die Arbeitslo­senversicherung rein. Wir ha­ben an der Ge­samt­lage genauso wenig schuld wie Kurzarbeiter oder einige Be­am­te, die zwar aktuell keine Arbeit, dafür aber Einkommen haben. Aus Steu­er­ein­kom­men, das wir mitfinanzieren. (Die Kassen der Arbeitsanstalt sollen leer sein, ist zu hören.)

Auf den Sozialstaat kann man sich verlassen. Nur Selbständige leider nicht.

Meine wirtschaftliche Grundlage war immer ein Mix aus Konferenzdolmetschen und künstlerischer Übersetzertätigkeit. Auf Letztere bin ich jetzt zurückgeworfen, An­fang der Woche habe ich in meinen Kalendern der letzten drei Jahre ausgezählt, wieviel Zeit ich normaler­weise mit Business (Dolmetschen) zubringe und wieviel Zeit mit künstlerischem Übersetzen.

Die kreative Arbeit entspricht über 60 Pro­zent der Tage, aber nur knapp 30 Pro­zent der Ein­nahmen. Die künstlerische Existenz ist derzeit meine Hauptein­nah­me­quelle. Daher der Antrag. Die Stipen­dien sind für alle profes­sionellen künst­le­ri­schen Beschäf­ti­gungen ausgelobt worden, auch für literarisches Über­setzen und Untertiteln. Die Nachbarin und ich haben uns also mit guter Laune vollgepumpt und unsere Portfolios erstellt. Die Begünstigten werden per Los­ver­fah­ren er­mit­telt.

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Textillustration: Bund (modifiziert)
Foto: C.E.

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