Eingerahmt zwischen Hochbettleiter und Anzugjacke |
Das sind zwei Städte, die mir von Kindesbeinen an vertraut sind, anfangs nur dem Klang der Städtenamen nach. Meine Vorfahren aus der sächsischen Garndynastie waren regelmäßig an beiden Orten, wir haben alte Fotografien, Postkarten und Briefe aus den Städten im Archiv, in der Verwandte auch Gebäude hinterlassen haben, waren immer wieder vor Ort. Auch das macht mir das Setting irgendwie vertraut.
Ich bin froh, dass ich als Studentin in meiner année de mise à niveau, dem Vorkursen in französischer Sprache und Landeskunde während des erstens Studienjahrs, auch einige Seminare "Französisch für Wirtschaft und Handel" absolviert zu haben. Die Grundbegriffe sind mir so vertraut, dass sich fast ein wohliges Gefühl einstellt, als hätte ich als Kind im Kontor meiner Ahnen in der Ecke gesessen und ihnen beim Spielen zugehört. Das hab ich in der Tat nur im unwahrscheinlichen Fall, wenn ich eine Zeitreisende sein sollte. Doch Zeitreisenden fehlt bekanntlich ein Teil des Gedächtnisses, wie schon jedes Kind weiß, so dass ich es nicht bestätigen kann.
Epigenetik mal wieder. Das gleiche Gefühl stellt sich ein, wenn ich alte Stoffe von höchster Qualität in der Hand habe. Oder im Garten zugange bin. Oder abends Pflanzen bestimme, die sich im Hofgärtchen selbst ausgesät haben.
Inzwischen ist mir auch das Onlinedolmetschen sehr vertraut, vorausgesetzt, ich kenne die Beteiligten. Die beiden Herren durfte ich schon am Anfang ihrer Zusammenarbeit vertonen, als ich noch keinen von ihnen persönlich kannte. Dabei war die Stimmung eher unentspannt, ein Stressor für mich als Dolmetscherin. Ich habe damals versucht, so cool wie möglich zu sein, mich wenig emotional darauf einzulassen. Dolmetschen, das Vorwegnehmen dessen, was kommt, wenn das deutscher Verb wieder mal auf sich warten lässt, funktioniert aber mit Identifikation, mit "Einschmiegen" und Spiegelneuronen. Ich sehe hier einen Widerspruch. Hinzu kommt beim Ferndolmetschen die Sorge um die Technik, das Jonglieren mit verschluckten Silben und Echo.
Jetzt, nachdem wir im Hochsommer zwei Tage gemeinsam auf Dienstreise waren, ist das völlig anders, alle mögen sich, die Arbeit fällt mir leicht. Ich sitze heute in meiner Kleiderkammer mit Hochbett, auf dem regelmäßig Gäste nächtigen. Dort ist ein Arbeitsplätzchen eingerichtet, an dem sich ruhig sitzen lässt. Zur Straße hin ist es heute zu laut, die einfache Sprecherbox reicht nicht aus, um enervierte Hupen und die Rangiergeräusche vor dem Haus wegzufiltern. Die Megakreuzung am Staßenende wird seit wenigen Tagen umgebaut, ist komplett gesperrt. Und freitags ist ja immer Wochenmarkt ... (Wo sind die Einbahnstraßenschilder?!)
Später geht es an den nächsten Arbeitsplatz. Dort schreiben, korrigieren und formulieren eine Nachbarin und ich, suchen Fotos aus, lektorieren. Über den Hof hören wir die Stimme von A., meiner Mitgärtnerin, die jetzt ihre Telko hat. Plötzlich ist unser Haus ein Großraumbüro! Das hätte die alte Eigentümerschaft, als sie unser Mietshaus zu Sommeranfang an einen Immobilienkonzern verscherbelt hat, sicher nicht im Sinn, dass wir jetzt alle noch näher aneinanderrücken.
Happy drücken wir lange vor der Einreichungsfrist auf den Sendeknopf. Wir nehmen an einer Ausschreibung um Corona-Stipendien des Berliner Senats teil. Künstlerinnen und Künstler in Berlin sind wie andre Solo-Selbständige in Coronazeiten auf "Hartz IV mit abgesenkter Zugangsschwelle" verwiesen worden.
In den Regelungen zur Grundsicherung sind allerdings Aktien- oder andere Anlageformen fürs Alter gegenüber z.B. der Riesterrente schlechtergestellt, denn nur berufsständische Vorsorgeprogramme (die meine Branche nicht kennt) und Sparpläne wie Riester gelten als "echte" Rücklage fürs Alter, während die anderen Rücklagen vor Antragstellung bitteschön erstmal aufzubrauchen sind, was nicht nur Altersarmut programmiert, sondern grundsätzlich altersrassistisch ist, haben junge Leute doch meistens erst geringere Summen zurückgelegt. Und nochmal, weil in den Kommentarspalten der Gazetten besonders viel Häme gegen uns Freiberufler ausgeschüttet wird: Eine solche Pandemie war weder für Selbständige und Künstler versicherbar, noch kommt unsereins in die Arbeitslosenversicherung rein. Wir haben an der Gesamtlage genauso wenig schuld wie Kurzarbeiter oder einige Beamte, die zwar aktuell keine Arbeit, dafür aber Einkommen haben. Aus Steuereinkommen, das wir mitfinanzieren. (Die Kassen der Arbeitsanstalt sollen leer sein, ist zu hören.)
Meine wirtschaftliche Grundlage war immer ein Mix aus Konferenzdolmetschen und künstlerischer Übersetzertätigkeit. Auf Letztere bin ich jetzt zurückgeworfen, Anfang der Woche habe ich in meinen Kalendern der letzten drei Jahre ausgezählt, wieviel Zeit ich normalerweise mit Business (Dolmetschen) zubringe und wieviel Zeit mit künstlerischem Übersetzen.
Die kreative Arbeit entspricht über 60 Prozent der Tage, aber nur knapp 30 Prozent der Einnahmen. Die künstlerische Existenz ist derzeit meine Haupteinnahmequelle. Daher der Antrag. Die Stipendien sind für alle professionellen künstlerischen Beschäftigungen ausgelobt worden, auch für literarisches Übersetzen und Untertiteln. Die Nachbarin und ich haben uns also mit guter Laune vollgepumpt und unsere Portfolios erstellt. Die Begünstigten werden per Losverfahren ermittelt.
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Textillustration: Bund (modifiziert)
Foto: C.E.
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