Sonntag, 24. Mai 2020

COVIDiariy (74)

Hello, bon­jour und gu­ten Tag! Hier be­rich­te ich aus mei­nem Berufsleben als frei­be­ruf­liche Konferenzdolmetscherin für die französische Sprache. Vor Monaten wurde aus dem Arbeitstagebuch das eher private COVIDiary. Was macht deutsches Wochenende aus? Fußball und Kaffee und Kuchen.

Kaffeetafel mit Damen und Herren. Alte Frisuren und Kleider, Bank aus weißgestrichenem Holz, Stofftischdecke. (Kaffeetafel 1927)
Einst im Mai ...
Der nächste Lebensmensch ging gestern zum ersten Mal seit drei Monaten zum Fuß­ball­training, er war beim Abendessen selig. Sie hätten nur zu viert Pässe hin- und hergespielt, aber im­mer­hin das. Und an­schlie­ßend das Fußballerbierchen am Kiosk gezi­scht, mit Ab­stand na­tür­lich. Auch das klingt in mei­nen Ohren ziemlich gut.

Ich hatte in der Zwischenzeit erst weiter an meinem Ordnungssystem für die Fo­to­samm­lung gearbeitet, dann war ich für den Garten unterwegs und einkaufen. Neu­lich habe ich eine Pflanzspirale auf dem Gehweg ge­fun­den, Me­tall, klein­kind­hoch, was wird da wohl bald daran emporarbeiten, Efeu oder etwas, das blüht? Die Spi­ra­le hat einige Roststellen, also habe ich nach der Möglichkeit gesucht, einen an­ge­bro­che­nen Topf Metallfarbe zu übernehmen. Das hat geklappt, Voraussetzung waren 2,5 Kilometer Fußweg je Strecke, dafür kein Lebensmittelladen am We­ges­rand. Aber fürs Essen fehlte noch Salat, fürs Wochenende eine Zitrone, Yoghurt, Brot, Möh­ren.

Kaffeetafel mit Damen und Herren. Alte Frisuren und Kleider, Bank aus weißgestrichenem Holz, Stofftischdecke. (Kaffeetafel 1927, Originalbild)
Fröhliche Kaffeetafel mit Marlene Dietrich (1927)
Also bin ich für den Rückweg bzw. den Um­weg in einen Bus eingestiegen. Dort ist der Weg vom vorderen Eingang zum Fahr­gast­raum mit Plastik abgeklebt, der Fahrer sitzt vom Rest isoliert. Das hatte ich gelesen, aber noch nicht gesehen.
Alle Mitreisenden trugen eine Maske.

Nach nur zwei Stationen fing eine junge Frau an zu niesen, zu husten und zu schniefen. Böse, fragende und verzweifelte Blicke kreuzten einander. Der Bus hielt an einer Haltestelle.

Mich hat die Situation überfordert. Soll ich aussteigen? Sämtliche möglichen Krank­heits- und Elendsbilder blitzen vor meinem inneren Auge auf. Was, wenn es nur einfacher Schnupfen, die olle Virusgrippe oder eine allergische Reaktion ist? Darf ich sitzenbleiben? Ist das Risiko hoch für mich und meine Lieben? Ist die Gefahr abschätzbar? Ich wäge ab: Rechtzeitiges Essen auftischen versus dreier weiterer Kilometer Fußmarsch. Soll ich 2,25 Euro Fahrgeld einfach vergessen? Das ist eine Menge Geld vor allem im Hinblick darauf, dass wir Konferenzdolmetscher kaum noch Einsätze haben.

Das waren zu viele Fragen für die kurze Zeitspanne, in der die Türen geöffnet wa­ren. Der Bus fuhr wieder an. Weiter gingen fragende Blicke hin und her. An der nächsten Station stieg die junge Frau aus. Ihre Atemluft blieb im Bus zurück. Kurz bevor die Türen zugingen, bin auch ich ausgestiegen. (Und auch nachher nur noch zu Fuß gegangen. Das Tagesprogramm verschob sich. Der nächste Mitmensch hatte Verständnis.)

Im Bioladen stehe ich einige Zeit später in der Schlange, als mich eine Frau direkt anniest. Sie sagt: "Entschuldigung!", dreht sich zur Seite und niest erneut, dieses Mal direkt ins Gesicht eines anderen Kunden. Dann legt sie ihre Waren hastig ne­ben der Kasse ab und verlässt das Geschäft.

Keine leichte Zeit, für niemanden. Neue Berufsidee: Vielleicht sollte ich hübsche Blumen-T-Shirts gestalten mit dem mehrsprachigen Aufdruck: "Sorry, ich habe Heuschnupfen!"

Abends sehe ich dann entgeistert im TV, wie in ehemaliger „Fußballgott“ mit Mas­ke auf dem Mund gezeigt wird, die Nase ist nicht bedeckt. Dann den Koch eines niedersächsischen Restaurants, der sich im Grundton einer Beschwerde darüber äußert, dass man doch alles „vorschriftsmäßig“ befolgt habe als wäre völlig aus­ge­schlos­sen, dass es mehrere Infizierte gibt, wo auf einmal die 70 Menschen in Qua­ran­täne herkämen. Er trägt den Mund-Nase-Schutz wie einen Roll­kra­gen. Ein kur­zer Zwischenschnitt zeigt, wie der Ton aus der Ferne geangelt wird, aber trotz­dem. Angesichts der grassierenden Verschwörungstheorien und Het­ze­rei­en em­pfin­de ich das als fahrlässig.

Sonntag war Zeitung- und Buchlesen angesagt, Stecklinge schneiden, Haushalt, Buchrecherche, ein Spaziergang. Business as usual. Später zur vir­tu­el­len Kaf­fee­ta­fel mit Studienfreundinnen und -freunden. Die fand natürlich nur virtuell statt. Deshalb nehme ich als Illustration meiner Raum-Zeit-Reisen ein altes, nach­il­lus­trier­tes Foto von 1927. (Das Original ist besser.) Und immer kurz das Erschrecken: Wie nah die bei­ein­an­der­hocken!

                      Hofgarten mit Blüten                       Wildes Zäunchen für die Gartenregenwürmer 
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Fotos: C.E. / eigenes Archiv. Bilder in
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