Donnerstag, 14. Mai 2020

COVIDiary (64)

Hallo und gu­ten Tag auf mei­nen Blog­seiten. Ich ar­bei­te seit 2005 in Pa­ris und Berlin als Kon­fe­renz­dol­met­sche­rin, früher auch oft als Über­set­ze­rin. Für den Unterschied: siehe die Unter­zeile oben. Derzeit schreibe ich vom Büro aus. Das Coronavirus macht aus meinem Blog aus dem Be­rufsall­tag das eher private COVIDiary.  

Vor dem Café: Tisch und Stühle mit auf den Boden aufgeklebten Markierungen
Ein "Coronatisch" im Reuterkiez
Das eine Nachbarkind hat neuerdings an drei Tagen die Woche je drei Stunden "Prä­senzunterricht" in der Schule, das andere kommt insgesamt auf vier echte Schul­tage bis zum Beginn der Som­mer­fe­rien. Es hängt vom Alter der Lehrerschaft ab: Die Älteren,  im Durchschnitt weniger in­ter­net­af­fin als die jün­ge­ren, sind we­ni­ger prä­sent als On­line­leh­rer.

Wenn die Älteren Aufgaben verteilen, dann eher per Mail. Onlineunterricht, Re­cher­che­auf­ga­ben oder Übungen, bei denen die Schülerinnen und Schüler ganze Webseiten bauen, Inhalt schreiben, mit Quellenangaben versehen, mit Zeich­nun­gen und Fotos ergänzen, vielleicht sogar einen kurzen Film dazu drehen und ver­to­nen, solche komplexen Übungen kommen eher von den jüngeren Lehr­kräf­ten, die jetzt auch die ersten sind, die wieder vor den Kleingruppen stehen (es werden im Wech­sel nur Tei­le der Klas­sen un­ter­rich­tet).

Das andere Nachbarkind hat Pech gehabt. Seine Lehrerinnen und Lehrer sind im Al­ter der eigenen Großeltern, während der Neunstunden-die-Woche-Schüler von Men­schen seiner Elterngeneration unterrichtet wird.

Das Leben ist per se nicht gerecht. Die einen werden in eine bildungsoptimistische Familie hineingeboren, bei den anderen dominieren andere Themen, die Ler­nen und Weiterentwicklung nicht erleichtern. In keinem europäischen Land ist der berufliche Erfolg so sehr mit der Herkunft verknüpft, wie in Deutschland. Hier setzt der Bildungsauftrag der Gesellschaft ein. Das Engagement von Eltern kann in diesen Wochen niemand ersetzen; was ist aber, wenn sich die Eltern gar nicht en­ga­gie­ren? Hier versagt der Bildungsauftrag in unserem Land ein zweites Mal.

Die Bildungsmisere ist nicht neu. Viele Bildungseinrichtungen leiden an Ver­knö­che­rung und an „Das haben wir schon immer so gemacht!“ Junge und alte innovative Kräfte wurden zu lange ausgebremst, Reformen verschoben, Analysen dessen, was bewährt ist und was sich anderswo bewährt hat, vermieden.

In England geht die Schule jeden Morgen deutlich später los als in Deutschland. Das betont Nachbarkind Lucie, deren Mutter Britin ist. Sie findet die Coronazeit toll, weil sie später anfangen kann mit dem Lernen. Sie lernt auch sehr eigenständig; ihre Oma, Lehrerin im Ruhestand, lebt in Cornwall und liebt die Computerei, sie ist ihr eine große Stütze. Lucie und ihr Dad betonen, was für ein Glücksfall das alles sei. QED, was zu beweisen war.

Kinder lernen, wie sie atmen. So viel läuft in Deutschland schief, so viel ist zu tun. Wir brauchen (als rohstoffarmes Land) eine massive Bewegung, Bildungsrepublik 2025 oder etwas in dieser Art, eine Reform, die jetzt anfängt und alle Le­bens­be­rei­che durchdringt, spielerische Projekte, die sexy sind auch die Älteren anregen.

Dann sind da noch Franz und Emil. Den kleinen Emil habe ich neulich vor dem Spielplatz kennengelernt, als er einen Hund belehrt hat, dass er nicht auf den Geh­weg kacken dürfe. Der Hundehalter hat sich daraufhin "plötzlich" um die Hinterlassenschaft gekümmert. Ich zu dem Knaben, als Köter und Herrchen weg waren: "Schade, dass der Hund nicht geantwortet hat!" Daraufhin Franz, sechs Jahre: "Wir sprechen immer mit den Hunden. Die Erwachsenen wollen nicht, dass ihnen Kinder sagen, was zu tun ist." Bäng! Franz und Emils Eltern sind Deutsche der 2. Generation, sie haben türkische Nachnamen, sind im Einzelhandel tätig, schrauben an Computern. Franz geht auf eine Privatschule und lernt Geige. Noch Fragen?

In der Bäckereiwarteschlange, Max, dreieinhalb Jahre alt: „Mama, ein Co­ro­na­tisch!“

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Foto: C.E.

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