Ein "Coronatisch" im Reuterkiez |
Wenn die Älteren Aufgaben verteilen, dann eher per Mail. Onlineunterricht, Rechercheaufgaben oder Übungen, bei denen die Schülerinnen und Schüler ganze Webseiten bauen, Inhalt schreiben, mit Quellenangaben versehen, mit Zeichnungen und Fotos ergänzen, vielleicht sogar einen kurzen Film dazu drehen und vertonen, solche komplexen Übungen kommen eher von den jüngeren Lehrkräften, die jetzt auch die ersten sind, die wieder vor den Kleingruppen stehen (es werden im Wechsel nur Teile der Klassen unterrichtet).
Das andere Nachbarkind hat Pech gehabt. Seine Lehrerinnen und Lehrer sind im Alter der eigenen Großeltern, während der Neunstunden-die-Woche-Schüler von Menschen seiner Elterngeneration unterrichtet wird.
Das Leben ist per se nicht gerecht. Die einen werden in eine bildungsoptimistische Familie hineingeboren, bei den anderen dominieren andere Themen, die Lernen und Weiterentwicklung nicht erleichtern. In keinem europäischen Land ist der berufliche Erfolg so sehr mit der Herkunft verknüpft, wie in Deutschland. Hier setzt der Bildungsauftrag der Gesellschaft ein. Das Engagement von Eltern kann in diesen Wochen niemand ersetzen; was ist aber, wenn sich die Eltern gar nicht engagieren? Hier versagt der Bildungsauftrag in unserem Land ein zweites Mal.
Die Bildungsmisere ist nicht neu. Viele Bildungseinrichtungen leiden an Verknöcherung und an „Das haben wir schon immer so gemacht!“ Junge und alte innovative Kräfte wurden zu lange ausgebremst, Reformen verschoben, Analysen dessen, was bewährt ist und was sich anderswo bewährt hat, vermieden.
In England geht die Schule jeden Morgen deutlich später los als in Deutschland. Das betont Nachbarkind Lucie, deren Mutter Britin ist. Sie findet die Coronazeit toll, weil sie später anfangen kann mit dem Lernen. Sie lernt auch sehr eigenständig; ihre Oma, Lehrerin im Ruhestand, lebt in Cornwall und liebt die Computerei, sie ist ihr eine große Stütze. Lucie und ihr Dad betonen, was für ein Glücksfall das alles sei. QED, was zu beweisen war.
Kinder lernen, wie sie atmen. So viel läuft in Deutschland schief, so viel ist zu tun. Wir brauchen (als rohstoffarmes Land) eine massive Bewegung, Bildungsrepublik 2025 oder etwas in dieser Art, eine Reform, die jetzt anfängt und alle Lebensbereiche durchdringt, spielerische Projekte, die sexy sind auch die Älteren anregen.
Dann sind da noch Franz und Emil. Den kleinen Emil habe ich neulich vor dem Spielplatz kennengelernt, als er einen Hund belehrt hat, dass er nicht auf den Gehweg kacken dürfe. Der Hundehalter hat sich daraufhin "plötzlich" um die Hinterlassenschaft gekümmert. Ich zu dem Knaben, als Köter und Herrchen weg waren: "Schade, dass der Hund nicht geantwortet hat!" Daraufhin Franz, sechs Jahre: "Wir sprechen immer mit den Hunden. Die Erwachsenen wollen nicht, dass ihnen Kinder sagen, was zu tun ist." Bäng! Franz und Emils Eltern sind Deutsche der 2. Generation, sie haben türkische Nachnamen, sind im Einzelhandel tätig, schrauben an Computern. Franz geht auf eine Privatschule und lernt Geige. Noch Fragen?
In der Bäckereiwarteschlange, Max, dreieinhalb Jahre alt: „Mama, ein Coronatisch!“
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Foto: C.E.
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