Donnerstag, 18. Juli 2019

Autoscham

Im 13. Jahr beschreibe ich hier meinen sprachbetonten Alltag. Ich bin Kon­fe­renz­dol­metscherin und Übersetzerin, arbeite mit der fran­zö­sischen Sprache (und aus dem Englischen). Diesen Sommer denke ich über meine Kunden nach.

Bullauge und Flugzeug im Schatten über Landschaft
Irgendwo im Baltikum
Und dann war da noch der Re­lo­cation-Kun­de, den ich zu diversen Amtsgängen be­glei­tet habe, An­mel­dung, Auf­ent­halts­pa­piere, er bekam die Bluecard, das Pendant zur bekannten US-amerikani­schen Green­card, Wohnungs­suche, Ein­schu­lung des ältesten Kindes.

Den einen oder anderen Kunden dieser Art ha­ben wir manch­mal nebenbei, gerne in den kongressarmen Wochen, oder es sind Freunde von Freun­den, denen wir einen Gefal­len tun, einfach so oder weil sogar um die Ecke ein Job winkt, oder aber es sind alte Freun­de aus früheren Jahren.
Wie dieser groß­ge­wachsener Mitt­vier­ziger, Architekt und Familienvater.

Nennen wir ihn Maruan. Das Büro, für das er inter­national tätig ist, sitzt in Berlin. Bei der Arbeit spricht er meis­tens Englisch. Seine Wiege stand irgendwo im Ma­ghreb, studiert hat er in Italien, England und Frankreich.

Eines Tages erzählte Maruan mir stolz, er würde gerade einen Jeep kaufen. Das ist et­was mehr als drei Jahre her. Sein Deutsch hat sich seither nur wenig verbessert, was ich immer wieder fest­stelle, wenn wir alle sechs, acht Wochen zusam­men mit­tag­essen (und er mir einige Papie­re zur schnellen Durch­sicht mitbringt.)

Ich muss damals ziemlich heftig die Stirn gerunzelt haben. Sein Sohn hätte sich den gewünscht, hat er damals entschuldigend gesagt. Ich weiß noch wie heute, wie ich ihm daraufhin vom Diesel­skandal berichtet habe, von Umweltschäden, von zu erwartenden Fahrverboten. Er hat zugehört, aber ich konnte ihm ansehen, dass der kleine Junge in ihm sich das Auto zusammen mit dem Sohn gewünscht hatte.

Drei Jahre später, es ist mal wieder was kaputt an der Karre, dieses Mal ist es die Klimaanlage: Ich sitze im Zug und manage den Auto­trans­fer von Werkstatt Eins zu Werkstatt Zwei, von Schrauber zu Fach­werkstatt, weil die Re­­pa­­ra­­tur komplexer ist als er­wartet, lasse mir das Bulletin der Arbeiten und die Vermu­tungen durch­geben, woran es wohl lie­gen mag. Voilà!, die Ultra­kurz­fassung: Zwei Strom­kreis­läufe, ei­ner fürs Ein­schalten, ei­ner für den Kühl­­kom­­pressor, der in ein separates Käst­chen ver­baut ist. Irgendwo hakt es mit der Strom­weiter­leitung. Und die Anlage kühlt an­fangs, dann setzt sie immer aus. Dieses "Anfangs" kann zehn Minuten oder aber zwei Stunden dauern.

Ich selbst habe gar kein Auto. Maximal lasse ich ab und zu fahren, wenn es sich nicht ver­meiden lässt. Mit großer Herkunfts­familie und Wahl­­ver­­wandt­schaft und jungen und alten Menschen im Umfeld gibt es immer wieder mal Strecken, die nur mit dem Auto zurück­gelegt werden können. Aber es gibt Miet­wagen und Car­sha­ring.

Den ersten Auto­­monteur quetsche ich am Telefon so lange aus, bis ich eine un­ge­fäh­re Idee von der Proble­ma­tik habe. Dabei stehe ich auf dem Gang des Zuges. Beim zweiten größeren Tele­fonat, Werk­statt Nummer Zwo ruft zurück, beschreibe ich das Problem, als stünde ich selbst bald vor der Me­cha­tro­ni­ker­prüfung. Das Problem wird innerhalb kürzester Zeit gefunden und be­hoben werden. Maruan braucht die Karre dem­nächst nur noch ab­zu­holen.

Beim zweiten langen Telefonat sitze ich eingeklemmt in ein Mehrpersonenabteil, am Gang schläft einer, gegenüber stillt eine Mutter ihr Kind. Es ist Freitag. Auf vielen deut­schen Straßen demonstrieren die Fridays for future-Jugendlichen. Bahnfahrer sind oft umweltbewusst Reisende, wenn sie sich den Luxus einer teuren Bahn­fahrt leisten und die oft spott­bil­li­gen An­ge­bots­flüge sau­sen lassen.

Seit einiger Zeit kennen wir das Wort "Flugscham" (vom Schwedischen Flugskam). Ich em­pfinde hier "Autoscham". Denn natürlich muss ich beim Tele­fonat den Wa­gen­typ ansagen, Jeep, das Baujahr, mittelprächtig neu, und die Art des Antriebs, Diesel­motor. Die Blicke der Mitrei­senden sprechen Bände. Ja, Autoscham. "Ein Kunde", sage ich entschuldigend und drücke noch mein Bedauern über eventuelle Be­ein­träch­ti­gungen nämlicher Mitrei­senden durch mein Telefonat aus. Das macht aber die Sache aber auch nicht besser.

Maruan heute beim Mittag­essen: "Im August sollten wir das Auto ver­kaufen! Ich will es so schnell wie möglich los­werden!" Jetzt hätte ich gerne mein über­raschtes Ge­sicht gesehen. Der hat sich aber schnell ak­kli­mati­siert! Berlin halt.


Vokabelnotizen
écoresponsable — umweltbewusst
interrupteur — Schalter
faux-contact — Wackelkontakt
boîtier — Kästchen, Gehäuse
compresseur frigorifique — Kühlkompressor

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Foto: C.E. (Archiv!!)

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