Mittwoch, 29. Februar 2012

Gegen den Stress

Willkommen auf den Seiten einer Französischdolmetscherin und -übersetzerin. Hier berichte ich aus Berlin, Paris und Cannes oder Marseille, München und Marburg unter Wahrung dienstlicher Geheimnisse — oder ich antworte auf Fragen meiner Leserinnen und Leser.

Während der Berlinale erreichte mich die Anfrage einer Dolmetschstudentin. Maria aus Leipzig möchte wissen: "Frau Elias, wie gehen Sie mit Stress um?"

Gute Frage, liebe Maria, denn der Dolmetscherberuf steht im Ruf, nach Jetpilot (bei Start und Landung) sowie Fluglotse der drittstressigste Job überhaupt zu sein, so zumindest eine immer wieder von Kollegen erwähnte WHO-Studie, zu der ich aber leider nie einen Nachweis finden konnte. Grundsätzlich ist für uns jeder Ein­satz ein "Stresstest" für sich, in dem nicht nur Fachkenntnisse und Ar­beits­methode, sondern auch der individuelle Umgang mit Stressoren auf den Prüfstand gestellt werden.

Auch ein Berlinale-Radio
Unsereiner legt sich über die Jahre eine kleine Trickkiste zu, die Routine hilft dabei. Bei manchen Jobs habe ich kein nennenswertes Lam­pen­fieber mehr; wenn aber auch nur ein winziges Detail der Versuchsanordnung geändert ist oder weitere Stressoren wie Lärm, Gestank oder der­lei aufkommen, stellt sich das Lam­pen­fie­ber schlagartig wieder ein.

Mein einfachster Trick in der Situation selbst heißt 'Der liebste Kunde'. Ich suche mir von den Anwesenden (im Kino, rund um den Tisch mit den Studiogästen im improvisierten Hörfunkstudio oder bei einer Konferenz) eine bestimmte Person heraus, die ich sympathisch finde und die meine Verdolmetschung braucht. Ich arbeite dann nur für sie ... die anderen dürfen zufälligerweise mithören. Das klappt sogar, wenn "der Rest" ganz Frankreich inklusive der überseeischen Gebiete ist, wie es November 2009 bei "Radio France fait le Mur", dem Zusammenschluss aller französischen öffentlich-rechtlichen Hörfunkprogramme zum 20. Jahrestag der Maueröffnung, der Fall war.

Ansonsten gilt: Vorbereitung ist der halbe Job. Ich lese viel, aber ich höre und sehe auch gerne, finde oft im Netz MP3-Aufnahmen von zu verdolmetschenden Menschen, mache Vokabellisten, für schwer eingängige Worte die kleinen Kar­tei­kärt­chen, trage derlei in der Handtasche mit mir rum und wiederhole entspannt und mit Zeit im Vorfeld (und auch hinterher, dann alle Bereiche fröhlich durch­ein­an­der­ge­mischt). Der lange Vorlauf ist mir wichtig, denn anschließend vergesse ich erstmal wieder alles, dann lerne ich erneut. Das ist der Idealfall. Die Spe­zia­li­sie­rung auf ein Fach­gebiet hilft; ich nehme keine Aufträge an, in die ich nicht ein­ge­ar­beitet bin (es sei denn, ich habe Zeit für eine gründliche Einarbeitung).

Dann kann ich mir erfolgreiche Einsätze vors innere Auge rufen, mir damit bewusst machen, was ich alles schon weiß, wie stark mich auch meine Erfahrung trägt. Das ist Tipp Nr. drei: Visualisierungen, diesen Trick habe ich mir von Sportlern ab­ge­guckt. Ich gehe alles detailliert durch, am besten aus einer entspannten Stimmung heraus, und lasse den inneren Film ablaufen. Das funktioniert auch bei neuen Fach­ge­bie­ten. Manchmal bezieht sich der innere Film auf einen neuen Ort, die Anwesenheit von Promis oder ungewohnte Gesprächssituationen. Schön, wenn es die Vorbereitung erlaubt, auch ungewöhnliche Arbeitsplätze vorher ken­nen­zu­ler­nen. Mitunter hilft mir aber auch die Bildersuche über Google schon weiter, mich auf den Ort einzustimmen und mein Entspanntsein zu programmieren.

Viertens: Atem- und Entspannungstechniken. Derlei gehört zum Rüstzeug von Dolmetschern, denn wenn wir es dringend brauchen, ist es zum Erlernen meist zu spät. Bewährt haben sich allerlei Formen von Meditation, Autogenes Training, Atemschulung. Ich habe dabei vor sehr langer Zeit mein Zwerchfell kennengelernt und weiß, wie ich über tiefe Atmung mein vegetatives Nervensystem positiv be­ein­flus­se. (Die Übungen frische ich gerne mal auf, letztens auf Englisch, hier: klick zur Universität Austin.)

Fünftens: Wissenschaftliche Denke, hier die Unterscheidung von Eustress und Dis­stress, die Abgrenzung von notwendigem, positivem Stress von negativem Stress also. Ich mache mir klar, dass ein stressarmer, ja vielleicht sogar langweiliger Beruf nichts für mich wäre und dass es positiven Stress gibt, der aufputscht, der mich wacher macht und der zum Flow führt. Und dass ich am Ende schön geschafft sein werde, weil ich es mal wieder geschafft habe.

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Foto: C.E.

2 Kommentare:

Th. hat gesagt…

Danke für diese Übersicht! Sehr schön beschrieben. Die Krankenkassen zahlen oft übrigens auch Kurse in Entspannungstechniken, oder sie bezuschussen sie.

Gruß nach Marburg,
Th.

caro_berlin hat gesagt…

Rückgruß, wieder aus Berlin.
War schön, aber sauanstrengend. Und Danke für den Tipp, Stichwort: Auffrischung.
C.