Donnerstag, 27. Januar 2011

Billy Wilder dolmetschen

Einen hab ich noch von der ablaufenden Woche, wenn ich den Sonntag hinzurechne, der spannender war als die Restwoche (Drehbuchübersetzungen). Also, Sonntag vor dem Tee hatte ich Mittagsschläfchen gehalten, davor fürstlich im Restaurant gespeist, denn davor ...

Ich sitze ganz hinten, direkt an der Tür, die zur Technik führt. Einer der beiden Vorführer ist nochmal nach hinten gegangen, denn leider ist das Mikro, das er mir brachte, ein Standmikrofon: Ich hatte es kurz angefasst und schon die Art meines Anfassens wurde in den Raum übertragen, dann fing der rechte kleine Finger laut hörbar zu schwitzen an.

Mein "POV" (point of view) dieses Einsatzes im Kino
Kurz darauf steht auch schon der Theaterleiter vorne und erklärt, dass die vollständige Billy Wilder-Retro ohne den Film, den wir gleich sehen werden, unvollständig gewesen wäre, von dem sich leider in letzter Minute nur noch eine Kopie in Brüssel anfand — und die ist natürlich auf Französisch. So wird heute "Madame ne veut pas d'enfants" anstatt "Madame wünscht keine Kinder" gezeigt. Die Filme entstanden 1932/33 im ersten auf dem europäischen Kontinent zum Zwecke der Tonfilmaufnahme erbauten "Tonkreuz" in Potsdam-Babelsberg. Regie führte Hans Steinhoff. Die Filme waren übrigens bereits damals das Remake des gleichnamigen Films von Alexander Korda aus dem Jahr 1926 (zu dem ich hier noch wunderbare film stills fand).

Kordas Film ereilte, was vielen Filmen der späten Zwanziger widerfuhr: Er war von einem Tag auf den anderen altmodisch, da half auch das moderne Sujet nichts. Denn plötzlich wollten alle Tonfilm sehen. Und weil auch schon damals die Erfolge international geplant wurden, durften vor der Erfindung der Synchronisation in Babelsberg Schauspieler aus drei Ländern vor ein- und denselben technischen Teams in ein- und denselben Dekos agieren. Diesem Umstand verdanken wir die Besonderheit unserer Sonntagsmatinée im Kino Babylon Mitte.

Licht aus! Ton an! Film ab! Die Vorführerin pegelt den Ton parallel zu den ersten Bildern. Kinoleiter Timothy hatte zuvor einen anderen frühen Tonfilm von Wilder gesehen und meinte, als er mich anheuerte: "Vermutlich werden die gar nicht viel sagen!"
Aber das Gegenteil ist der Fall. Zwei Herren im Spielzeuggeschäft, liebevoll wird die Erstausstattung für ein Baby ausgesucht: Diese Puppe oder jener Teddy? Wir nehmen beide! Ach, was ist das denn? Ein neuartiger Kinderstuhl! Nehmen wir! Und der Kinderwagen, hast du den gesehen? Wann darf ich liefern? usw.

Film ab! Das Mikro musste höher
Im Taxi geht der Redeschwall gleich weiter. Das Kind, für das eingekauft werden soll, ist noch nicht mal gezeugt, der künftige Vater heiratet heute, vorerst muss er sich aber von seiner Geliebten verabschieden, was die erste Zwickmühle des konfliktreichen Filmgeschehens darstellt. Innerhalb der ersten Minuten hat die eine Filmvorführerin den Ton eingestellt, was nicht ohne ist, denn meine Verdolmetschung wird zusammen mit der Filmtonspur über die großen Boxen in den Raum übertragen, in dem ich selbst sitze. Mein Stuhl steht daher im Eck hinter und unter den meisten Lautsprechern, wir wollen keine Rückkopplung; aber ich behindere mich wiederholt selbst beim Sprechen, überdeckt meine Stimme doch manchmal leicht den Ton, den ich verdolmetsche.

Ich war inhaltlich vorbereitet und geistig-moralisch ebenso. Wir wussten zwar die Sache mit der französischen Fassung nicht sooo lange im Voraus, um genau zu sein war ich seit Freitag Nachmittag informiert, sonst hätte ich mir aus dem Filmarchiv das Drehbuch besorgt (sofern es dort noch vorhanden ist).
Indes, ich fand im Internet einen Hinweis auf einen französischen Erfolgsroman aus den 1920-er Jahren des gleichen Titels und aus der Feder eines gewissen Clément Vautel (... den Tucholsky einen Bahnhofsliteraten und schlimmer schilt, siehe unten). Das Titelbild des Buchs wird in einer ebenfalls im Netz gefundenen wissenschaftlichen Arbeit etwa so beschrieben: Eine junge Frau mit Bubikopf sitzt auf dem Schoß ihres Mannes, sie scherzen miteinander wie Kameraden, der Stoff ihrer beiden gestreiften Pyjamas fällt so übereinander, dass auf den ersten Blick nicht auszumachen ist, welches Bein zu wem gehört.

Cover (1ère de couverture)
Der Plot war damals anscheinend auch im Theater erfolgreich: Eine moderne junge Frau, Garçonne genannt, heiratet und will ihren Alltag weiterführen, der im Falle der zweiten Filmfassung vom Sport geprägt ist. Monsieur Gatte indes, (erst bei Wilder ein erfolgreicher Kinderarzt,) wünscht sich nichts sehnlichster als Nachwuchs, Weibchen am Herd und Heimstatt für seine geliebten Pantoffeln.

Nein, ich habe nicht das ganze Buch über die Garçonne für den Sonntagseinsatz gelesen (Literaturhinweis unten), nur ein gefühltes Drittel. Als Dolmetscherin bin ich umso ruhiger, je mehr ich über das Thema des Einsatzes weiß. Außerdem verfüge ich über eine Eigenschaft, die manche Menschen stören mag, die in unserem Metier aber eine Grundtugend darstellt: Ich bin neugierig.

So bin ich relativ gelassen, als sich der Konflikt auf der Leinwand weiter entspinnt, als es zu Streit kommt, als Madame die Wohnung in eine olympische Anlage verwandelt, was die Drehbuchautoren Max Kolpé und Billy Wilder zu Sprüchen an der Grenze zur Schlüpfrigkeit provozierte: "... das Wohnzimmer ein Boxring, das Schlafzimmer ein Gymnastikraum."

Deckblatt (page de garde)
Und gerade, als ich vergesse, was ich mache, nennt die junge Garçonne ihren gar nicht mehr toleranten Gatten une mauviette ... mich durchzuckt rasch ein Millisekundenschreck, gesehen das Wort, ja, im Kontext gelesen und nachgeschlagen auch (und zwar im Studium bei Céline), aber noch nie verwendet, Umgangssprache mit leicht historischem Beigeschmack, so fühlt es sich an, dieses 1932-1935 zum ersten Mal im Dictionnaire de l’Académie française erwähnte Wort.

Mich retten Gedächtnis und Filmzusammenhang: In der Tat nennt sie den Göttergatten einen "Schwächling", und mauviette wird im Film noch derart häufig vorkommen, dass ich es allein in diesem Film so gelernt habe, dass ich das Wort bis zu meinem Lebensende können werde.

Dann wieder Aktwechsel (Rollenwechsel), und plötzlich ist der Ton zu leise. Die Vorführerin ist in ihre Kabine zurückgekehrt, der Kinoleiter, der vorne sitzt, merkt's, springt zum Lautstärkeregler, jetzt höre ich wieder, was ich gleich danach zusammenfassend und möglichst immer im Duktus des Films dolmetsche. Eingesprochene oder verdolmetsche Filme sind gesprochene Untertitel, die sind ja ebenfalls reduziert, und auch die legen keine Emphase in ihre Worte. Ich darf also nicht spielen; nur manchmal, wenn das Geschehen auf der Leinwand lauter wird, muss auch ich lauter werden.

Plakat (affiche) des Films von 1926
Hätten wir das Ganze etwas länger im Voraus gewusst, die Vorführer hätten den Tonausgang an der Abhörbox im Vorführraum nutzen und einen besonderen Stecker auftreiben können (XLR auf Klinke), um ans Ende einer langen Schnur einen Kopfhörer für mich hängen zu können, auf dem ich dann "sauberen" Filmton gehabt hätte. Da es dieses Mal nicht so war, gingen an zwei Stellen ein paar Worte verloren, beim Aktwechsel und als eine ältere Madame Quatscheviel mit sprachlicher Überschallgeschwindigkeit dem Gatten auf dessen eigener Hochzeit zusetzt, als dieser auf die Rolle 'Zaungast bei einer Sportveranstaltung' reduziert ist. Aber es gibt Figuren wie diese, wo das WIE des Gesagten wichtiger ist als das WAS.

Meine Filmhelden singen jetzt, ich übertrage nach ein paar Takten rasch den Inhalt, dann hören wir alle der Musik zu.
Ich darf mich kurz zurücklehnen, Wasser trinken, tief durchatmen.


Literaturtipps: "La Garçonne: Wandlungen einer literarischen Figur", Julia Drost, Wallstein Verlag, Göttingen 2004.
Über Vautel einen herrlichen Verriss von Tucholsky, hier (für eilige: der letzte Absatz hat's in sich).
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Fotos: C. Elias sowie Archivmaterial

2 Kommentare:

OHE hat gesagt…

Danke für den Text! Gerne wüsste ich noch, worauf die Handlung hinausläuft. Und was hat Wilder aus diesem Text gemacht, der offensichtlich nicht zu seinem sonstigen Werk paßt und warum er ihn doch verfilmt hat. Der Autor ist ja (Analogiebildung zu "bauernschlau") sozusagen "kleinbürgerschlau", das kann man durchaus mit Ironie behandeln, hat er? Tucholskytext sehr schön. Haben T. und W. den gleichen Blickwinkel auf den Spießfranzosen?

caro_berlin hat gesagt…

Moin, es läuft auf ein Happy End aus der Sicht des Gatten hinaus. Um mehr über die Arbeit von W. zu sagen, müsste ich einschätzen können, wie groß sein Anteil im Autorenteam an der Sache war. Die Story ist aber derart überquirlt und fast schon auf Satire gedreht, dass der restaurative Charakter gar nichts mehr ausmacht. Denn schon in der Anlage ist die Geschichte nicht im Lot: Was interessiert sich dieser gestandene Herr für die fast noch minderjährige Sportskanone? Wo ist man sich erstmals begegnet? Ihr zum Teil sehr unsympathisch gezeichnetes Umfeld müsste der Herr eigentlich schon aus der Verlobungszeit kennen ...
Tut er aber nicht. Die daraus resultierenden Probleme sind also eigentlich, in der Logik der Figuren argumentiert, aufgesetzt.

W. hat wohl am Ende (gleichzeitig oder nach dem Ko-Autoren, das weiß ggf. die Literatur) 'nur' den bekannten Plot (Buch, Theaterstück, Erstverfilmung) zugespitzt (Beruf des Gatten, Sport statt Charleston wie noch im Korda-Film) sowie viele Witze reingeschrieben. Da kommen dann schon Fragen auf, zum Beispiel wer für die Wahl des Vornamens von Madames Tennispartner verantwortlich zeichnet, ein lächerlicher Unsympath mit dem damals schon wohlbekannten Namen Adolf.

"Madame wünscht keine Kinder" ja gar nicht von W. selbst verfilmt worden, sein Regiedebut gab er erst 1934 in Paris mit "Mauvaise graine", so dass wir, um Kinoleiter Timothy zu zitieren, "Wilder ganz zart durchscheinen" erleben durften, aber ein typischer Wilder-Film ist das garantiert nicht. Eher eine Fingerübung.

So viel dazu mit einwöchigem Abstand. Dolmetscher sind keine guten Filmkritiker, Dolmetscher sind gar keine Filmkritiker, weil einfach zu sehr im Stoff. So, wie auch den Drehbuchautoren einst die Produktionsbedingungen auch keine weitere Luft für Reflexion des oder Distanznahme zum Erstautor blieb.

Letzter Punkt: die Franzosen sind hier durchaus Franzosen, da sie Französisch sprechen, ihre Herkunft tut aber nichts zu Sache. Der Film wurde ja in der Durchlauferhitzer-Deko mit (mindestens) drei unterschiedlichen Casts verfilmt, die Drehbücher von meinen "Kollegen" anno dazumal nur übersetz. So scheint alles "national Phänotypische" rausgeflogen zu sein, was nur logisch ist.

Bon week-end,
bises, Caro