Donnerstag, 8. September 2016

Weltbildungstag

Bonjour, hier liest, denkt und schreibt eine Spracharbeiterin, Fran­zö­sisch­über­set­ze­rin und -dol­met­sche­rin. In der Herbstsaison habe ich noch einige Termine frei.

An der Oberbaumbrücke
"Wissen vermehrt sich, wenn man es teilt." Das ist eines mei­ner Motti. Ihm zufolge hät­te ich Lehrerin werden können. Oder an der Uni blei­ben und dauerhaft die Pult­sei­te wechseln. (Aber An­fang der Nuller Jahre hat mich der Umbau der Uni­ver­si­tä­ten nach­hal­tig ab­ge­schreckt.)

Heute ist der internationale Weltbildungstag.

Am Morgen haben eine Kollegin und ich einer jungen Autorin etwas beige­bracht. Die wollte nämlich ihren Erst­ling übersetzen lassen, oder ein Teil davon. Es han­del­te sich dabei um erotisch unterlegte Memoiren, 120.000 Zeichen roundabout, Leer­zei­chen inklusive.

Leseprobe gefällig? Ich übersetze aus dem Gedächtnis, aber die Art des Texts wer­de ich schon treffen: "Er zog sie noch ein Stück näher zu sich heran. Das Tief ihrer Augen hinter ihren elegant geschwun­genen, langen Wimpern war heute wieder über­wält­ig­end. Der Duft ihrer Haut war mit nichts vergleichbar, oder vielleicht doch, eine Mischung aus dem Duft von Milch, Honig, sonnenbeschienenem Un­ter­holz und einer Frühlingswiese. Und in diese Frühlingswiese würde er gleich etwas pflanzen ..."

Sorry, ich hab die Sache fast noch aufgebessert, aber die Chose las sich wie die un­frei­wil­li­ge Parodie auf einen Bahnhofsroman. Und dann noch das Werk einer Frau.

Also |Honorar| Schmerzensgeld veranschlagt, den üblichen Preis von 1,60 je Über­set­zer­norm­zei­le (55 Anschläge), eigentlich dafür viel zu wenig, und schon mal im Kalender rumgezählt, wann ich etwa fertig sein könnte wegen erster an­ste­hen­der Auswärtstage. Ich komme auf knapp 3.5 netto, nun denn. Die Antwort kam post­wen­dend. Sie habe mit einigen 100 Euro gerechnet, lautete die ehrliche Ant­wort, aber sicher unter 1000. Hätte ich mir gleich denken können.

Puppenstube mit Kronleuchter und vielen Büchern: home is where your bookstore is
Werbepuppenstube der Buchhandlung ebertundweber
Wobei ... ich erinnere mich da an den Konzernchef im Ruhestand von neulich mit seiner Autobiografie. Er schrieb auch nicht so ganz wischecht. Viele Stellen pro­vo­zier­ten Tränen, nicht der Rührung, sondern der un­frei­wil­li­gen Komik wegen. Es war alles gut gemeint, nichts aber gut gemacht. Also die Samt­hand­schu­he über­ge­streift und beraten.

Ergebnis: Die Arbeit, die anfiel, hat zwei Kolleginnen glücklich gemacht, die eine hat es aufgrund der Vorlage beim Übersetzen umgetextet und stel­len­wei­se nach Rücksprache neu geschrieben, die andere in die Muttersprache des Kunden rück­über­setzt. Der hat nun 500 bereits gedruckte Bücher seiner fran­zö­si­schen Erst­fas­sung eingestampft.

Tag der Weltbildung, Gedanke zwei, vom Banalen zum Erhabenen. Wir müssen weg von der Haltung, dass unser Wirtschaftssystem auf Wissenszurückhaltung beruht und auf der Herstellung minderwertiger Ware. Wir müssen Wissen teilen. Und wir müssen weg von diesem Wirtschaftskrieg, in dem etliche Schrott produzieren, min­der­wer­ti­ge Kopien dessen, was eigentlich gebraucht wird, andere ihren Mit­men­schen Dinge aufschwatzen, die sie nicht brauchen, und wieder andere ihre Zeit­ge­nos­sen nur überaus faktenreich (prüfbar) ausbilden, anstatt sie im Erwerb von Methoden und Arbeitsweisen sowie dem Wachhalten von Kreativität zu be­glei­ten.

Die Aufgaben, die auf den Nägeln brennen, sind zahlreich genug. Ich weiß zwar nicht im Detail, wie das gehen soll bei so vielen konkurrierenden Ideen, Firmen und Personen. Wikipedia oder Open source-Programme für die Textverarbeitung sind oft ein spannendes Vorbild, bei dem viele Hand in Hand arbeiten. Und wo das Ergebnis im Fo­cus steht, nicht das Ego.

Vermutlich sollte man schon mal dringendst in der Schule anfangen und den Kids das Zusammenarbeiten stärker beibringen, wie eine Gruppe eine Lösung finden kann, dass mit den jeweilen Stärken gearbeitet werden soll und das Aufspüren von singulären Begabungen erleichtert wird. Die Chose dann begleiten, damit die Kids uns, die Alten beraten können. Wir verwalten die Welt ja nur für sie und für ihre Kinder.

Mauer (Westseite) mit Kriegstrümmerfoto
East side Gallery (West), Ausstellung bis 25.9.16
Dabei werden so viele Kleine grausam vom Lernen abgehalten, weil sie das falsche Geschlecht haben, im fal­schen Land geboren oder im fal­schen Flucht­land gelandet sind. Und zu den Kriegen höre ich von den Youngsters die glei­chen Sätze wie jene, die ich als Kind selbst gesagt habe: "Ihr Er­wach­se­nen sagt uns doch immer, dass wir uns ver­tra­gen sollen, warum macht ihr es denn selbst nicht?"

Buch zur Zeit: "Die Konferenz der Tiere" von Erich Kästner.

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Fotos: C.E.

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