Mittwoch, 29. Juni 2016

Nach(ver)dichtung

Herz­lich Will­kom­men auf den Blog­sei­ten einer Sprach­ar­beiterin. Hier den­ke ich über den All­tag der Welt der Kon­fe­renz­dol­metscher und Über­setzer nach und über unser Arbeitsmaterial, die Sprache(n).

Auf meinem Schreibtisch treffen sich gerade zwei Wörter. Es sind die Begriffe "Nach­dichtung" und "Nachverdichtung". Für einen Privatkunden übertrage ich ein eine Ode auf Bäume aus dem Jahr 1813. Für einen Kongress bereite ich das Thema "Bauen im Bestand" vor.

Französische Handschrift
Nachdichtung
Hier geht es darum, wie sich in Berlin sehr elegant das ur­ba­ne Gewebe dichter ge­stal­ten und dem Bedarf ent­spre­chen lässt, als es das jetzt oft ist, ohne Frei­flächen wie das Tempel­hofer Feld zu opfern, dem zweiten Lun­gen­flügel der deutschen Me­tro­po­le, alleine durch Lücken­schluss, kluges Aufstocken und int­el­li­gente, ge­wis­ser­ma­ßen "at­men­de" Grun­drisse.

In unserem Haus wurden Anfang des 20. Jahrhunderts bereits solche flexiblen Woh­nungs­grun­drisse angelegt, zumindest im Vorderhaus. Die zwei bis drei Wohnungen je Stockwerk lassen sich durch bereits eingeplante Übergänge für einige Jahre bis Jahrzehnte verbinden und ohne großen baulichen Aufwand wieder trennen. Das ist sehr sinnvoll. Denn viele ältere Menschen bleiben nach Abschluss der Fa­mi­lien­pha­se in ihren Wohnungen, die plötzlich zu groß sind. Urbanisten sprechen hier (analog zur Überbelegung) von Unterbelegung.

Durch die explosionsartig angestiegenen Mieten würden diese älteren Menschen für den gleichen Preis im selben Viertel etwas zwischen der Hälfte und dem Drittel der bisherigen Wohnfläche beziehen können. So stehen viele Räume leer und werden maximal einen halben Tag in der Woche genutzt, wenn die Enkelchen auf Besuch kommen. Gemäß der jeweiligen Lebenszyklen wachsende bzw. schrumpfende Grund­risse sind hier eine elegante Lösung.

Fassade mit Spuren eines abgerissenen Hauses
Nachverdichtung
Wenn einem nicht der Vermieter den Strich durch die Rechnung macht und das Vergrößerungsgesuch der Familie ab­schlä­gig bescheidet, weil er die "fle­xi­ble" Wohnung lieber mit einem Marmorbad ausstattet, um die Miete zu verdreifachen, anstatt sie zu einem nur moderat er­höh­ten Entgelt an die Familie zu vermieten.

Er hofft zudem offenbar, dass die Familie wegzieht und er auch den Mietzins dieser Wohnung erhöhen kann. Das allerdings unterbleibt immer häufiger, denn konkret wären Familien in meiner Nachbarschaft für ein Zimmer mehr mit zusätzlichen 1000 Euro pro Monat belastet, wenn auch sie im Kiez bleiben wollen.

Also rücken die Familien zusammen und die Kinder von heute haben, anders als die Generation ihrer Eltern einstmals, kein eigenes Zimmer mehr. Auf das dritte Kind wird aus den gleichen Gründen in diesen Mittelschichtsfamilien verzichtet.

So, dann wende ich mich mal wieder der Nachdichtung zu.

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Fotos: C.E.

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