Papierkrieg im Café |
Knapp die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 15, die Lebenserwartung liegt bei knapp über 50 Jahre. Das Land hat Bodenschätze, aber kaum Industrie. Der Mehrwert, der aufgrund dieser Reichtümer entsteht, wird woanders realisiert. Auf dem Korruptionsindex liegt das Land sehr weit vorne.
Babila ist jung und stark. Mit 18 ist er aufgebrochen. Er hat eine recht ausgeschriebene Handschrift, obwohl er "nicht sehr lange" in der Schule war. Er hat schon früh gejobbt, nichts festes, den Gabelstaplerführerschein abgebrochen, er nennt das Gefährt un hyster, eine deutsche Marke, weil ihm Geld für die Prüfung gefehlt hat. Der Hunger und die Hoffnung trieben ihn außer Landes. Er ist durch Westafrika in den Norden gewandert, dann in Ceuta gelandet, einer spanischen an Marokko angrenzende Exklave an der nordafrikanischen Küste. Dort hat er drei Monate im Lager gelebt, "ich musste wieder zu Kräften kommen", deutet er die Strapazen der Reise an. Wie er dann letzten Herbst nach Deutschland kam, erzählt er nicht.
Jetzt hat ihm die Ausländerbehörde ein Papier zugeschickt, das er unterschreiben soll. Darin bescheinigt er die Kenntnisnahme seiner Mitwirkungspflicht, also dass er sich einen Pass besorgen muss, Voraussetzung seiner Abschiebung, die ab dem 10. September geschehen kann. Sein Asylantrag wurde nicht bewilligt. Babila bringt es auf den Punkt: La faim ne compte pas ("Hunger zählt nicht.")
Im Begleitschreiben zu diesem Formular stehen Sätze wie "Zur Sicherung der Abschiebung können Sie in Haft genommen werden, sofern Sie durch Ihr Verhalten zu erkennen geben, dass Sie sich Ihrer Abschiebung entziehen wollen" oder "Auch ohne Vorliegen von Haftgründen kann die Ausländerbehörde Haft beantragen, wenn ihre Abschiebung bevorsteht". Er sagt, er habe einen gelben Brief erhalten, in dem Spanien als Abschiebeziel gestanden hätte.
Babila füllt den Anfang des Dokuments eigenständig aus. Obwohl er regulär an keinem Deutschkurs teilnehmen konnte, liest und versteht er alles, was die persönlichen Angaben angeht. Später wird er mir seine E-Mail-Adresse diktieren. Die Buchstaben spricht er deutsch aus, sein Lieblingsbuchstabe ist "Üpsilon". Er lacht, wenn er Y sagt. Er trägt eine kurze, karierte Hose und zuckt kurz darauf nervös auf den Beinen, die von Narben übersät sind. Auf meinen Blick hin schiebt er sie unter den Bistrottisch.
Das Formular ist vollständig auf Deutsch. Es ist weder auf Deutsch/Englisch/Arabisch/Französisch/Russisch/... noch auf Deutsch/Englisch, es ist einfach nur auf Deutsch.
Babila lebt mit um die hundert Menschen in ähnlichen Situationen irgendwo im brandenburgischen Wald. Dort war einst eine Reparaturwerkstatt, die zu einer russischen Kaserne gehört hat. Zur Hauptstraße führt ein Weg durch einen sackgassenartiges Dorf, in dem es eine kombinierte Back- und Poststation gibt, und etliche Kilometer weiter, an der Bundesstraße, eine Tankstelle mit angeschlossenem Supermarkt und Reinigung. Von dort fährt einige Male am Tag ein Bus in Richtung Bahnstation im nächstgrößeren Ort. Die Bevölkerung sei ihnen gegenüber feindselig bis gleichgültig eingestellt.
"Wir schlafen, wir warten aufs Essen, wir essen, wir warten aufs Schlafen. Sonst gibt es nichts zu tun", beschreibt Babila seine Lage. "Ich habe nicht damit gerechnet, dass es so wird. Ich möchte Deutsch lernen, ich möchte irgendwo wohnen, einen Beruf erlernen, arbeiten und mir etwas aufbauen."
Normale Träume für einen Neunzehnjährigen, der nicht verstehen kann, wie manche Leute seines Alters Drogen nehmen, aussteigen, bevor sie überhaupt eingestiegen sind oder von "No future" sprechen, Kinder wohlgemerkt, die hier geboren worden sind. Die letzten Zeilen des Formulars, die mit Nummern markiert sind, unterschreibt er nicht. Er notiert sich aber genau alle Kästchen, Ziffern und die Bedeutungen.
Im Internet suchen wir noch Kontakte zu Landsleuten in Berlin heraus. Als er sich verabschiedet, lächelt er schüchtern: Au revoir, peut-être !
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Foto: C.E.
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