Dienstag, 28. Juni 2016

Babila

Bonjour, hello, guten Tag! Als Übersetzerin und Dolmetscherin lebe und arbeite ich in Berlin, Paris, Hamburg und Marseille. Mitunter werde ich aufgrund meiner Sprachkenntnisse in meinem Stammcafé so etwas wie ein "public writer", ich helfe mit Formulierungen oder bei Verständnisfragen weiter. In loser Folge portraitiere ich hier Zeitgenossen.

Hand und Formulare
Papierkrieg im Café
Nennen wir ihn Babila. Er hat Anfang letzten Jahres seine ka­me­ru­ni­sche Familie ver­las­sen, die Eltern, Onkel und die Tante sowie die fünf Schwes­­tern, die sich alle ein Häus­chen teilen. Die Groß­fa­mi­lie und Freunde haben für ihn zusammengelegt, weil sie ge­hört haben, dass es in Eu­ro­pa Arbeit gibt. In Kamerun sind bezahlte Stellen rar, das Gros der Menschen ist arm.

Knapp die Hälfte der Bevöl­kerung ist jünger als 15, die Lebenserwartung liegt bei knapp über 50 Jahre. Das Land hat Boden­schätze, aber kaum Industrie. Der Mehr­wert, der aufgrund dieser Reichtümer entsteht, wird woanders realisiert. Auf dem Kor­ruptions­index liegt das Land sehr weit vorne.

Babila ist jung und stark. Mit 18 ist er aufgebrochen. Er hat eine recht aus­ge­schrie­be­ne Handschrift, obwohl er "nicht sehr lange" in der Schule war. Er hat schon früh gejobbt, nichts festes, den Gabel­stapler­führer­schein abgebrochen, er nennt das Ge­fährt un hyster, eine deutsche Marke, weil ihm Geld für die Prüfung gefehlt hat. Der Hunger und die Hoffnung trieben ihn außer Landes. Er ist durch Westafrika in den Norden gewandert, dann in Ceuta gelandet, einer spanischen an Marokko an­gren­zen­de Exklave an der nordafrikanischen Küste. Dort hat er drei Monate im La­ger gelebt, "ich musste wieder zu Kräften kommen", deutet er die Strapazen der Reise an. Wie er dann letzten Herbst nach Deutschland kam, erzählt er nicht.

Jetzt hat ihm die Auslän­der­be­hörde ein Papier zugeschickt, das er unterschreiben soll. Darin bescheinigt er die Kenntnis­nahme seiner Mit­wir­kungs­pflicht, also dass er sich einen Pass besorgen muss, Voraussetzung seiner Abschie­bung, die ab dem 10. Sep­tem­ber geschehen kann. Sein Asylantrag wurde nicht bewilligt. Babila bringt es auf den Punkt: La faim ne compte pas ("Hunger zählt nicht.")

Im Begleitschreiben zu diesem Formular stehen Sätze wie "Zur Sicherung der Ab­schie­bung können Sie in Haft genommen werden, sofern Sie durch Ihr Verhalten zu erkennen geben, dass Sie sich Ihrer Abschiebung entziehen wollen" oder "Auch ohne Vorliegen von Haft­gründen kann die Auslän­der­be­hörde Haft beantragen, wenn ihre Abschiebung bevorsteht". Er sagt, er habe einen gelben Brief erhalten, in dem Spa­nien als Abschiebeziel gestanden hätte.

Babila füllt den Anfang des Dokuments eigenständig aus. Obwohl er regulär an kei­nem Deutschkurs teilnehmen konnte, liest und versteht er alles, was die per­sön­li­chen Angaben angeht. Später wird er mir seine E-Mail-Adresse diktieren. Die Buch­sta­ben spricht er deutsch aus, sein Lieb­lings­buch­stabe ist "Üpsilon". Er lacht, wenn er Y sagt. Er trägt eine kurze, karierte Hose und zuckt kurz darauf nervös auf den Beinen, die von Narben übersät sind. Auf meinen Blick hin schiebt er sie unter den Bistrot­tisch.

Das Formular ist vollständig auf Deutsch. Es ist weder auf Deutsch/Englisch/Ara­bisch/Fran­zösisch/Russisch/... noch auf Deutsch/Englisch, es ist einfach nur auf Deutsch.

Babila lebt mit um die hundert Menschen in ähnlichen Situationen irgendwo im bran­den­bur­gi­schen Wald. Dort war einst eine Re­pa­ra­tur­werk­statt, die zu einer russischen Kaserne gehört hat. Zur Hauptstraße führt ein Weg durch einen sack­gas­sen­ar­ti­ges Dorf, in dem es eine kombinierte Back- und Poststation gibt, und etliche Kilometer weiter, an der Bundes­straße, eine Tankstelle mit an­ge­schlos­senem Su­per­­markt und Rei­ni­gung. Von dort fährt einige Male am Tag ein Bus in Richtung Bahn­sta­tion im nächstgrößeren Ort. Die Bevölkerung sei ihnen gegenüber feindselig bis gleichgültig eingestellt.

"Wir schlafen, wir warten aufs Essen, wir essen, wir warten aufs Schlafen. Sonst gibt es nichts zu tun", beschreibt Babila seine Lage. "Ich habe nicht damit ge­rech­net, dass es so wird. Ich möchte Deutsch lernen, ich möchte irgendwo wohnen, einen Beruf erlernen, arbeiten und mir etwas aufbauen."

Normale Träume für einen Neunzehnjährigen, der nicht verstehen kann, wie man­che Leute seines Alters Drogen nehmen, aussteigen, bevor sie über­haupt ein­ge­stiegen sind oder von "No future" sprechen, Kinder wohl­ge­merkt, die hier geboren worden sind. Die letzten Zeilen des Formulars, die mit Num­mern markiert sind, unterschreibt er nicht. Er notiert sich aber genau alle Kästchen, Ziffern und die Bedeutungen.

Im Internet suchen wir noch Kontakte zu Lands­leuten in Berlin heraus. Als er sich verab­schiedet, lächelt er schüchtern: Au revoir, peut-être !

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Foto: C.E.

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