Vokabeln, Redensarten und Sprichwörter sammeln wir Sprachmenschen nach Herzenslust. Schon als Studentin habe ich oft den Stift gezückt, sogar im Bistrot nach dem Seminar. Viele Vokabelheftchen habe ich so gefüllt. Das Leben wurde stetiger, aus Heftchen wurden Vokabelbücher.
Es fehlt: l'oriel (m) — der Erker |
Außerdem nehme ich regelmäßig Hörfunksendungen auf, die dann auf den MP3-Player wandern; Vorbesprechungen und Konferenzen außerhalb der Kabine zeichne ich mit einem Tonaufnahmegerät auf; mein Mobiltelefon ist ein kleiner Knochen, mit dem ich telefonieren kann. Nur telefonieren und Kurztextnachrichten senden, sonst nichts.
Noch habe ich kein Smartphone in der Tasche, das diese Geräte in sich vereint. Das liegt an einer gewissen Bequemlichkeit, aber auch am Misstrauen diesem Allrounder gegenüber. Denn im Zweifelsfall könnte das Gerät leicht mein Bewegungsprofil erstellen. Und Zweifel, das weiß ich aus Dolmetscharbeiten für die Polizei, entstehen schnell. Zweifel sind heute längst nicht mehr nötig, um Menschen systematisch zu überwachen.
Mir macht das Sorgen. Ich muss an Rosalie denken, eine hochbetagte jüdische Dame, die in meinem ersten Pariser Lehrjahr meine Nachbarin war. Sie hatte über vierzig Jahre nach Kriegsende noch immer einen kleinen Fluchtkoffer fertig gepackt unter dem Bett liegen, zog die Abgeschiedenheit der Dienstbotenetage einer normalen Wohnung vor, die sie sich als Bibliothekarin locker hätte leisten können. Sie warnte mich vor den Franzosen: Diese hätten bereits vor dem Überfall der Deutschen auf Frankreich die Listen aller jüdischen Einwohner erstellt und danach etliche rassistisch begründete Festnahmen und Deportationen alleine durchgeführt. "Erlaube nie, dass der Staat mehr Infos hat über dich, als nötig!", pflegte sie zu sagen, "Mehrheiten können schnell wechseln".
Rosalie lebt schon lange nicht mehr. Ihre Generation der Zeitzeugen stirbt aus. Den direkten Nachgeborenen sitzt noch der Schrecken in den Gliedern ob solcher Nachrichten und den sie begleitenden Blicken (und dem anschließenden Schweigen).
Mir ist mulmig dabei, dass dieses Thema der Mehrheit der Bevölkerung heute kaum Sorgen zu bereiten scheint.
Ich könnte die Frage auch ins Humorvolle wenden — oder praktisch argumentieren: Reicht denn nicht, dass mein Surfverhalten ausspioniert wird? Was sollen staatliche oder private (Überwachungs-)Firmen von mir halten, die das alles zum Zwecke der Profilerstellung protokollieren? Wir Sprachmittler haben es an einem Tag mit vertraulichen Gesprächen eines Strafverteidigers mit seinem Mandanten zu tun, am anderen Tag mit Verteidigungspolitik, wenig später mit beruflichen Perspektiven junger Menschen, in der darauffolgenden Woche mit der menschlichen Ernährung oder mit existentiellen Themen, wie sie in Filmen abgehandelt werden.
Jedes Mal lese ich mich ein, erstelle eine neue Lexik oder ergänze etwas aus dem Bestand. Und was denken die gewissen Dienste daher von mir?
Die Wand als Notizblock |
Mindestens ein Kunde weiß von mir, dass ich eine antike Schreibmaschine besitze. Was dieser Tage in der Zeitung (in all ihren Darreichungsformen) steht, das Ausspionieren von Unternehmen durch Geheimdienste, schwirrte in Industriekreisen schon lange als Vermutung durch den Raum. Dort wurde adäquat reagiert, auch wenn die Folgen nervig sind: TippEx, diese stinkende Korrekturflüssigkeit, ist inzwischen nicht mehr überall käuflich, und auf den Kurier zu warten macht auch keinen Spaß.
Dem Vernehmen nach haben die USA mit deutscher Hilfe auch die französische Politik ausspioniert. Liebe geliebte Franzosen, dreht den Spieß doch um, wehrt Euch und bespitzelt die Deutschen (intensiver). Dann weiß die aktuelle Bildungsministerin wenigstens, warum sie den stundenintensiven Deutschunterricht der mehrsprachigen Klassen nicht einstellen soll. Und zur Krönung darf ich jetzt noch eine Wörterliste zur Mittelschulreform erstellen. Das Leben ist eine Lexik! Und manchem ernsten Thema lässt sich leider auch unter größten Anstrengungen keine komische Seite entlocken.
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Fotos: C.E. (Das Bild der Lexik lässt sich,
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