Mittwoch, 1. August 2012

Akademiker und Stimme

Bonjour auf den Seiten eines Logbuchs aus der Dolmetscherkabine. Regelmäßig texte ich die Blogeinträge aber auch am Übersetzerschreibtisch. Nachtrag meines Links der Woche vom letzten Samstag. Die nächsten Tage bin ich auf Klausurtagung, mein nächster Blogpost folgt in drei Tagen.

Heute gleich zwei Links. Aufgeschreckt hat mich letzte Woche der taz-Bericht über eine IG Metall-Studie, derzufolge "fast jeder fünfte Erwerbstätige in Deutschland mit abgeschlossener Berufsausbildung oder Hochschulstudium unterhalb seiner erworbenen Qualifikation beschäftigt" ist. Jörg Hofmann, Bezirksleiter der IG Metall Baden-Württemberg, beschreibt die "Risikogruppen", die "besonders stark von einer unterwertigen Beschäftigung betroffen sind. Dazu zählen unter anderem Frauen, Erwerbstätige mit Migrationshintergrund oder Teilzeitbeschäftigte."

Zu ergänzen wären wohl noch: viele Freiberufler. Auch der Dolmetschernachwuchs hat es heute schwerer als vor zehn oder zwanzig Jahren.

Seit 2008 wundern mich die Klagen besonders der jungen im Großraum Berlin lebenden Kolleginnen und Kollegen über den zum Teil sehr mühsamen Berufseinstieg nicht mehr.

(Weniger Einstiegsprobleme in den Beruf soll es dem Vernehmen nach für Dolmetscher mit Deutsch als Muttersprache bei den internationalen Behörden zum Beispiel in Brüssel geben, denn da stünde ein Generationenwechsel an. Gilt das noch?)

Dass Frauen von der deutschen Studie hervorgehoben werden (analog zur bösen Zeile: "Frauen und Behinderte werden bevorzugt eingestellt"), wundert mich nicht. Deutschland ist in Berufsfragen von echter Emanzipation weit entfernt. Verglichen mit Frankreich erlebe ich sogar noch als Sprachmittlerin zu viele komische Momente, die zuende gedacht nichts anderes als Geschlechtsdiskriminierungen sind. Über Frauenerwerbstätigkeit und Familie habe ich neulich erst Lise Jolly, einer Journalistin von Radio France, ein Interview gegeben. (Sendetermin sommerbedingt noch offen, Link folgt.)

Oft mag die Situation auch das mangelnden Selbstbewusstsein von Frauen spiegeln. Aufholbedarf(*) konstatiert jedenfalls Stimmtrainerin Alexandra von der Weth, die in der "Zeit" feststellt: "Zu mir kommen sehr viele Managerinnen. Vermutlich, weil sie oft nicht gern im Mittelpunkt stehen. Da muss ich erst mal das Selbstvertrauen stärken — viele Frauen in unserer Gesellschaft haben davon immer noch zu wenig."

Was macht eine gute Rede aus? Die Wissenschaft ist sich dem Artikel zufolge einig, Inhalte sind es nur zu 20 %, Stimme und Körpersprache tragen 80 % bei. Wir Dolmetscher können das in vielen Fällen bestätigen ... und arbeiten weiter an Inhalt und Stimme, denn Körpersprache fällt bei unsereinem nur auf der Festivalbühne ins Gewicht.
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Fotos: C.E.
(*) und auf Ostdeutsch: Aufholebedarf. An kleinen Worten
(wie auch den Größenordnungen) merken Profisprecher
auch heute noch, wer aus welchem Landesteil stammt

3 Kommentare:

Alexander hat gesagt…

Ich glaube, mit dem viel beschworenen Generationenwechsel in den Institutionen ist es so eine Sache. Einerseits ist er absolut notwendig, da viele erfahrene Kollegen in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen. Auf der anderen Seite herrscht bekanntlich überall Wirtschaftsflaute, und auch die Kommission muss kräftig sparen. Reste à voir...

caro_berlin hat gesagt…

Ja, das Gleiche sehen wir ja derzeit an den Unis. obwohl jetzt die doppelten Jahrgänge anstehen und so viele junge Leute ein Studium aufnehmen wie nie zuvor, wird nicht nennenswert aufgestockt, nur die Anzahl der (vogel)freien Lehrbeauftragten wird mal wieder erhöht. Das System ist ohnehin schwer in der Schräglage und lebt u.a. von den Habilitierten, die auch ohne Entelt lehren müssen, um ihre Venia nicht zu verlieren. Ein sehr deutsches und feudales System, das ich aus mehrjähriger eigener Anschauung gut kenne!

Die schon vor Jahren geplanten "Lehrmaschinen"-Stellen werden wohl gerade trotz Protests eingeführt: Hier bei den kritischen Geographen steht mehr, u.a.: An deutschen Hochschulen sind es gegenwärtig sogar 85% des wissenschaftlichen und künstlerischen Personals, die mit befristeten Arbeitsverhältnissen, Lehraufträgen oder Honorarverträgen zurechtkommen müssen. (...) Insgesamt ein trauriges Bild im Vergleich zu Großbritannien (35%), Frankreich (37%) und den USA (17%)!

Und dann kriegen die deutschen freien Hochschullehrer auch oft nur einen Bruchteil dessen, was man anderswo als Honorar bekommt!

Wir erleben die fortgesetzte Prekarisierung des akademischen Mittelbaus. Und wenn ich die Seite richtig interpretiere, so sehe nicht nur ich den Künstlermythos als eine der Erklärungen, warum in Deutschland sowas möglich ist. Bei vielen Filmschaffenden ist die Lage ja bereits verheerend. Hoffentlich färbt das nicht dauerhaft auch auf uns Sprachmittler ab!

Bon, on verra ...

André hat gesagt…

Es ist schon erstaunlich, wie hier in Deutschland von Wirtschaft und Politik die einzig wirklich im Übermaß vorhandene Ressource ignorant verschleudert wird.