In der ersten Reihe |
Wir sind in einem Kongresszentrum oder Hotel oder Gründerzentrum, eine junge Frau, die erst seit einigen Jahren berufstätig ist, hält einen hochkomplexen Vortrag, der ihr erster verdolmetschter Vortrag ist.
Ich bin als einzige Dolmetscherin gebucht und sitze, da wir gleich zu Betriebsbesichtigungen aufbrechen werden, mit einer mobilen Anlage (ohne Kabine drumherum) seitlich am Podium.
Die Vortragende gliedert ihre Präsentation in zwei Einheiten zu je 20 Minuten, zwischendurch gibt es kurze Kaffeepausen, eine Frage- und Antwortrunde sowie einen untertitelten Film, so dass das müde Dolmetschhirn immer wieder zu seinen Pausen kommt. Die Delegationsgruppe aus Ingenieurinnen, Stadtverordneten, Technikdienstleisterinnen und Politikern kenne ich noch nicht, wir treffen gleichzeitig am Austragungsort ein. Die Stimmung ist leicht angespannt, denn das Team war infolge erhöhter Sicherheitsvorkehrungen am Flughafen mit großer Verspätung gestartet, in zwei Flugzeugen statt wie geplant in einem.
Die junge Rednerin legt los, sie spricht wie gedruckt und liest zum Teil ab, hat ihre Präsentationen großenteils auswendig gelernt und verbindet grammatikalische Verschachtelungen mit verbalen MG-Salven. Noch dazu handelt es sich um einen sehr komplexen Stoff, es geht um Klimatechnik, Energieeinsparung, Elektromobilität und Fragen der Niedrigenergiearchitektur.
Einmal reiht sie so Nebensatz an Nebensatz, setzt immer wieder höchst akkurat ein Schächtelchen in das nächste; ich höre staunend zu und ahne noch nicht, auf welches Verb das alles hinauslaufen soll, was der Sinn ihrer beeindruckenden Konstruktion sein wird. Ich sitze also da und lausche. Warten scheint neuerdings zu den Kernaufgaben des Metiers zu gehören. In den hinteren Reihen beginnen die ersten, an ihren Empfangsgeräten zu drehen, um zu prüfen, ob sie noch funktionieren. In der mittleren Reihe schauen die ersten in meine Richtung, und aus der allerersten Reihe spricht mich, die ich neben der Leinwand sitze, die Veranstalterin an und fragt auf Französisch: „Haben Sie ein Problem?"
Ich lächele bittersüß und zucke ein wenig zu komödiantisch mit den Achseln. Dann sage ich: "Ich warte auf das Verb!" Noch eine leicht entschuldigende Geste nach vorne, Richtung Rednerin, alle lachen, die Vortragende auch. Die junge Frau hat Humor, was ich beim Kennenlernen schon feststellen dufte, sonst hätte ich mich das nicht getraut. Die Sache geht gut aus: Das Eis ist gebrochen, und auch das Publikum ist von da ab viel entspannter.
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Foto: C.E. (eine andere Rednerin)
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