Sonntag, 7. Februar 2016

20-er Jahre-Mund

Ob absichtlich oder geplant, Sie lesen auf den Blogseiten einer Dolmetscherin und Übersetzerin, die in Paris, Berlin und überall dort arbeitet, wo Sie meine Dienste brauchen. Sonntags werde ich hier privat.

Das heutige Sonntagsfoto, mein Foto der Woche, kann ich leider nur erzählen. Ich kam am späteren Abend von einem Event nach Hause und saß einer entzückenden jungen Dame gegenüber, Typ Erstsemesterstudentin, mit dem allersen­sa­tio­nells­ten Schau­fens­ter­pup­pen­mund wie aus den 1920-er Jahren: Der Amorbogen in perfekter Herz­form, die Un­ter­lip­pe in der Mitte voller, leicht schmollmundig, und die Mund­win­kel bildeten kleine Grübchen. Ich schaute fasziniert auf die jungen Dame, die nicht nur mich keines Blickes würdigte, sondern auch den mitreisenden bal­zen­den Jungmännern die kalte Schulter zeigte.

Ihr Blick war einzig und alleine auf den mitgeführten Taschenterrorist alias Mo­bil­te­le­fon gerichtet. Ab und zu ver­moch­te es die kalte Technik (oder der Mensch da­hin­ter), ihr ein entzückendes Lächeln zu entreißen.
Oder las sie vielleicht gerade das Wi­ki­pe­dia­por­trait von Clara Bow?

In mir wuchsen plötzlich Muttergefühle für das hinreißende Geschöpf, das ich gerne fotografiert und interviewt hätte im Stil des Blogs "Humans of New York". Doch sie, die direktemang einem Stumm­film entsprungen schien, blickte nur auf ihren Miniaturmonitor.

Ich dachte weiter über die Münder von vor 90 Jahren nach. Oft habe ich mich ge­fragt, was die Physiognomie der Menschen innerhalb weniger Generationen so ver­än­dern kann, dass derlei in Natura heute selten geworden ist. Gut, aufgrund der koh­le­hy­dra­trei­chen Ernährung werden wir immer größer, das habe ich im Grund­stu­dium an meiner Uni in Paris jeden Tag aufs Neue erleiden dürfen, wo ich nicht alleine meine liebe Mühe hat­te, die langen Beine zwischen den Reihen der Ende des 19. Jahr­hun­derts fest­ge­schraub­ten, ge­­schnitz­­ten Holz­­bän­ke diverser Amphi­théâ­tres unterzukriegen. (Es war meine zweite Kindheit, der Alma mater habe ich ständig angestoßene Knie verdankt.)

Was ist der evolutionäre Vorsprung, damit sich ein Mund verändert, Herr Darwin? Ja, ich weißt: Die Wirkung eines Mundes hängt stark davon ab, wie er geschminkt wird. Das Schminken ist zeittypisch, die Auswahl des Modells auch, Stars werden zu allen Zeiten Menschen, die dem jeweiligen Schönheitsideal entsprechen.

Ich kam übrigens von einer Mottoparty zurück, Thema waren die Roaring Twenties. Dass diese Epoche gerade schwer in Mode ist, liegt am Abbau der Sozialsysteme, dem Bedeutungszuwachs von Ideologien, dem Einflussgewinn von Propagandisten. Ich mag diesen Sozialdarwinismus nicht und erschrecke regelmäßig, wenn ich un­se­re Epoche näher betrachte.

Wir müssen alle wach sein und uns einmischen. Meine Lieblingssendung im Hörfunk die­ses Landes ist das Läuten der Freiheitglocke, jeden Sonntag, kurz vor zwölf Uhr, und das seit 1950. Dazu ist folgender Text zu hören: "Ich glaube an die Un­an­tast­bar­keit und an die Würde jedes einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich verspreche, jedem Angriff auf die Freiheit und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo auch immer sie auftreten mögen." (Da ich für den rein säkularen Staat bin, finde ich, dass die Worte "von Gott" gestrichen werden sollten.)

Das hübsche Kind hat übrigens nicht mehr von seinem Smartphone aufgeschaut. Ich habe mich nicht getraut, es anzusprechen. Ich war feige, ich hatte noch einen dicken Kopf vom Übersetzen. Das ist keine Entschuldigung, sondern eine Erklärung.

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Foto: Aus dem Film "Maytime" (1923),
The New Zealand Film Archive

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