Hallo! Seit Februar 2007 blogge ich hier aus der Dolmetscherkabine und vom Übersetzerschreibtisch meine kleinen Beobachtungen aus der Welt der Sprachen. Und jetzt ergeht's mir wie allen Verkäufern von Saisonartikeln und Hosenschneidern: Die Themen wiederholen sich mit den Jahreszeiten. (Der Beweis der Redundanz: 2010, 2011, 2012, 2013.)
Heute rasch zweierlei: Während ich mich weiter ins Thema Bodengesundheit vergrabe und dem Weg der Nährstoffe durch die Krume folge, reden schon alle vom Herbst, und an den Supermarktkassen stehen die Schokonikoläuse neben den Weihnachtsstollen stramm. Eine leichte Sommernostalgie durchwehte schon meinen gestrigen Beitrag. Prompt bekam ich eine Antwort.
Denn heute ist der erste Herbstanfang, aber nur für diejenigen, die das wirklich wollen, für alle anderen ist Spätsommer. Nämlich: "Heute ist keineswegs Herbstanfang; das
Äquinoktium fällt in diesem Jahr auf den 23. September, dann erst beginnt der Herbst. Der sogenannte meteorologische Herbstanfang am 1. September dient lediglich dazu, statistische Auswertungen zu erleichtern und wäre dank EDV eigentlich gar nicht mehr erforderlich."
Das musste mal gesagt sein. Danke! Ich genieße also den Sommer bis zum zweiten Herbstanfang.
Auch in Frankreich hat sich von gestern zu heute alles verändert und ist trotzdem alles gleich geblieben. Gestern dominierte
noch bräsige Augustverschlafenheit das Land, heute beginnt in
Frankreich, tataaaa, nein, nicht der Herbst, naja, unter Statistikern vielleicht auch, dafür aber die neue
"Saison". Der 1.9. ist so etwas wie der 1. Januar, naja, gefühlt, denn
er ist der Anfang von der Wiederaufnahme des schulischen, akademischen und gesellschaftlichen Lebens,
la rentrée genannt. (Viele Kalender, nicht nur die von Schülern und Studenten, gehen vom Herbst bis zum Sommer.)
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Ernst des Lebens in Sicht
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Prompt bekommen viele Sender neue Programmschemata, Schüler eilen wieder zu den Stätten ihrer Bildung, die hochgeklappten Bürgersteige werden wieder auf Normalniveau gebracht. Das ist wirklich eine echte Besonderheit französischen Lebens und lustig, dass es sich seit Jahrzehnten exakt so abspielt.
Was den Franzosen ihre
rentrée, ist den Deutschen ihre Zuckertüte. Zum ersten Schultag gibt's diese Teile auch schon seit vielen Generationen, allerdings nur in Deutschland und im deutschsprachigen Ausland. Die Franzosen kennen das das konische Einschulungsmöbel dafür überhaupt nicht.
Die Änderungen finden woanders statt. Die junge Erstklässlerin aus den 1920er Jahren trägt zudem einen Lederranzen, der bis in die frühen 1970er Jahre so ausgesehen hat. Meine Oma nannte das Teil "Tornister". So hießen die gerundeten Ledertaschen zum Auf-dem-Rücken-Tragen der Soldaten im 1. Weltkrieg auch schon. Hierzu passt das Wort "Klassenkamerad". Heute auch unbekannt, es heißt
|Schulfreundin oder Schulfreund| EDIT: Mitschüler, wie eine Leserin oder ein Leser richtig bemerkt hat.
Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Mappen aus Plastik Schulranzen aus einem recyclingfähigen, umweltschonenden High-Tech-Textil Platz machen, denn ihre Haltbarkeit ist von gewollt kurzer Dauer. Kaum vorzustellen, dass wir damals mit zwei Ranzen unsere ganze Schullaufbahn bestreiten konnten, mit dem kleinen "Tornister", der sogar oft übernommen worden war von einem anderen Kind, für die ersten Jahre, und einem hochwertigen Lederranzen für danach. Letztere haben nur einen Malus: Sie sind schwer.
Bis dahin üben wir
Äquinoktium sagen, ein seltenes Wort, eigentlich nur zwei Mal im Jahr in Gebrauch, aber sicher etwas, womit sich auch auf Spätsommerparties punkten lässt. Und
l'équinoxe spricht sich irgendwie leichter aus.
Vokabelnotiz:
la rentrée littéraire — der Bücherherbst
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