Donnerstag, 4. Juni 2015

Ausflug an den Stadtrand

Bon­jour, hel­lo und sa­lut ... auf den Sei­ten die­ses Blogs. Hier schreibt eine Dol­met­scher­in und Über­setzerin über ihren All­tag in Ber­lin, Paris oder Spandau, meine Arbeitssprachen sind Französisch und Englisch (hier als Ausgangssprache).

Die Speiseröhre führt nicht in den Magen
Gute Nerven wünscht mir meine Mutter noch am späten Abend. Mit den besten Wün­schen einer befreundeten Ärztin ver­las­se ich am Morgen das Haus, Aus­spra­che­training der Fachtermini gibt mir eine Kollegin per Mobiltelefon auf dem Weg. Es ist nicht immer einfach, meinem Beruf nachzugehen, aber was ich heute erlebe, ist der Alltag von Ärztinnen, Ärzten und Pfle­ge­per­so­nal. Gut gerüstet mit einer Vokabelliste und medizinischen Texten auf Deutsch und auf Französisch trete ich die lange U-Bahnfahrt an. Das Reiseziel ist die Stadtrandstraße; wie es dort aussieht, passt zum Namen. Hinter Ein­fa­mi­lien­häu­sern, Schrebergärten und Obstwiesen liegt ein Krankenhaus.

Den lustigen Teil ziehe ich vor, dann habe ich ihn hinter mir, denn zum Lachen ist mir nicht zumute: Ernährung via Tropf nennen die Deutschen eine Infusion, en fran­çais la perfusion, was zu verhuddeln nicht angesagt ist, denn unter une in­fu­sion verstehen Franzosen wiederum ... Kräutertee! (Ich habe das hier sicher schon mal gebracht, aber mit einer solchen eher lustigen "Auffrischung" begann gestern Nacht meine medizinische Lernstunde. Die Buchung war kurzfristig.)

Der Rest war traurig. Zwischen OP-Planung und Elterngespräch wurde ich begrüßt, spielte Mäuschen und schrieb erst einmal Medizinerjargon mit. Es geht um ein Frühgeborenes mit extrem niedrigem Geburtsgewicht, das nach etwas mehr als der halben 'Brutzeit' das Licht des Berliner Himmels erblickt hat. Zusätzlich zu seiner extremen Unreife leidet es unter einer "Oesophagusatresie", von Oesophagus (Öso­pha­gus, die Speiseröhre) und Atresie (nicht gebaut oder später durch eine na­tür­li­che Öffnung oder Kanal geheilt), l'atrésie de l'oesophage, auch Spei­se­röh­ren­ver­schluss genannt. Am Vorabend habe ich Wörter wie Verengung (Stenose) und pa­ren­te­ra­le Ernährung (pE, unter Umgehung des Verdauungstraktes) gepaukt.

Und wieder hat mich mein Beruf aus dem stillen Übersetzerstübchen her­aus­ge­ris­sen und mitten ins Leben hineinkatapultiert. Dabei ist die Vielfalt dessen, womit wir uns beschäftigen, wohl kaum zu überbieten. Bei meinem letzten Auftrag ging es um die Eröffnung einer Kunstausstellung, das vorletzte Gespräch drehte sich um einen Grauwasserkreislauf für einen Berliner Haushalt. Wir Dolmetscher sind Lern­pro­fis und lernen alles, wenn es nur einen lebendigen Bezug dazu gibt.

Zurück ins Krankenhaus. Im Patientenangehörigenaufklärungsgespräch geht es um den Verlauf einer anstehenden Operation und um die möglichen Gefahren. So et­was zu verdolmetschen nimmt mich regelmäßig ziemlich mit. Kurz beschleicht mich der Gedanke, dass das Kind so früh auf die Welt kam, weil sich die Natur ge­sagt hat, dass es mit der Fehlbildung am Ende nicht lebensfähig sein wird.

Neugeborenes im Brutkasten
Brutkasten mit Ventilator
Auf der anderen Seite wäre der Spei­se­röh­ren­ein­griff keine große Sache, wenn der Winzling nicht gar so mini wäre. Und Früh­gebo­re­ne haben in Deutschland eine immer bessere Prognose.

Die Hauptperson des Tages, zwei Handvoll Baby, liegt derweil nebenan im Brutkasten. Es wird nur über "das Kind" gesprochen, erst am Ende wird am Rand erwähnt, welches Geschlecht das aus dem Nest gefallene Vö­gel­chen hat. Sein Name fällt in der ganzen Zeit, ich bin anderthalb Stunden vor Ort, kein einziges Mal. Ich wünsche ihm, seinen Eltern und seinen Ärzten von Herzen das Allerbeste.

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Fotos: Wikicommons und C.E.

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