Samstag, 22. September 2012

Fernsehgedächtnis

Willkommen auf den Weblogseiten einer Sprachmittlerin für die französische Sprache. Ich lebe und arbeite dort, wo ich gebraucht werde, in Marseille, Berlin, Paris, Köln und sonstwo. Ich bin Teil eines Netzwerks von Dolmetschern und Übersetzern und denke hier öffentlich über unsere Arbeit in der Informationsgesellschaft nach. Samstags bringe ich immer meinen Link der Woche, heute mal wieder im Plural.

Mein Klick der Woche ist schon wieder ein Film, der auf "Arte" lief, und zwar am  Mittwoch, dem 19.9.12(*). Ich spreche vom Portraitfilm über Oliver Storz, "Lawinen der Erinnerung", in der Regie von Dominik Graf. (Um zum Film zu gelangen, einfach in den nächsten Tagen den Filmtitel anklicken.)

Portrait Oliver Storz, megaherz gmbhDiesen Film habe ich auf der letzten Berlinale gesehen.
Er hat mich sehr beeindruckt, denn Graf ist es gelungen, eine Form zu finden, die wunderbar zum Portraitierten passt — und zugleich bundesdeutsche Fernsehgeschichte zu schreiben.

Auch der lakonische Sprecher gefällt mir außerordentlich gut. (Wer war's?)
Form und Inhalt sind hier kongruent. Oliver Storz ist eine Persönlichkeit, die es spätestens jetzt, nach seinem Tod, zu entdecken gilt. Im Februar notierte ich mir Zitate dieses Autors und Regisseurs in mein Notizbuch wie: "Fernsehen hat kein Gedächtnis". Die auch hier regelmäßig beklagte grassierende Verflachung, so habe ich von Storz gelernt, ist kein neues Phänomen. Ihm wurde damals nahegelegt, auch publikumswirksame Dinge zu machen, später trocken von ihm selbst kommentiert mit: "Ich habe mich manchmal zu Tode geschämt für den Fernsehscheiß".

Und  noch eine Notiz, über die frühe Bundesrepublik aus Storz' Feder: "Nach zwei Generationen des Völksichen wollen sie [die Deutschen] nun kein Volk mehr sein, nur noch Bewohner." Prima formuliert. Das Unbehagen lässt sich zum Beispiel daran ablesen, dass das Wort "Volk" bis heute durch "Bevölkerung" ersetzt wird (und gut so!) und dass in den Köpfen aller beim Wort "national" bis vor der Wende immer und stets "-sozialistisch" nachgeklungen hatte, womit das Wort lange tabu war. (Seit der Wende ändert sich das bzw. schon kurz davor; um 1988 beobachtete ich bei Westberliner |Studenten (wie sie damals noch hießen, Männlein wie Weiblein)| Studierenden, einen völlig unbefangenen Umgang mit dem Wort.)

Hier noch die herzenskluge, sehr lesenswerte Filmkritik plus Nachruf auf Storz von Matthias Brandt, in der SZ veröffentlicht: klick!

Auch Brandt kritisiert das "Subventionsfernsehen (...) in Legitimationsnot", dessen Gedächtnis, wie ich einer anderen Zeitung entnehme, durchaus von Zeit zu Zeit im Programm besichtigt werden kann, leider zu allgemein nachtschlafener Zeit bzw. zu Stunden, in denen jüngere (längst aufgebene?, potentielle) Zielgruppen unterwegs sind: Freitagnacht auf Samstag. Gestern brachte der hiesige Lokalsender rbb um Mitternacht (!) die Sendung "Fernsehfieber" von 1963, die mit "Bemerkungen über das Massenmedium und sein Publikum" unterschrieben ist. Ich kenne den Beitrag von meiner Zeit des Unterrichtens, aus einer Arbeitsgruppe zur Fernsehgeschichte.

Die Autoren von "Fernsehfieber", Dieter Ertel und Georg Friedel, sahen schon vor einem halben Jahrhundert 13 bis 14 Millionen Bundesbürger jeden Abend von dieser neuen, zu Passivität führenden Epidemie betroffen, und sie interviewten auch viele (damals noch) Studenten, die bewusst das damals noch recht neue, überweigend schwarz-weiße Massenmedium vermieden, weil sie dessen Suchtgefahr erkannten (und sich nicht wirklich davor gefeit glaubten). Es war die Zeit, in der das Wort "Straßenfeger" ein Rundfunkprogramm bezeichnete, das dafür sorgte, dass die Straßen "wie leergefegt" waren. Die Autoren stellten auch Umfragen über inhaltliche Vorlieben des Publikums vor, in denen volkstümliches Theater die Bestnoten erhielt, während Stücke wie "Unsere Kleine Stadt" von Thornton Wilder im Minusbereich bewertet wurden.
(Die TV-Oberen haben daraus ihre Lehren gezogen ... oder gibt es noch Theater im "normalen" TV?)

Ein Ausschnitt von "Fernsehfieber" findet sich auf YouTube, dem (Abspiel-)Kanal, der in für jüngere Leute längst wichtiger ist als das (gelegentlich noch filmische Werke wie "Lawinen der Erinnerung" mitfinanzierende) Fernsehen. Es ist just die Stelle, in der ominöse "Zuschauervereine" sich ein Fernsehen wünschten, das noch mehr auf Unterhaltung setzt ...(Für die Schnellseher: Ab der 8. Minute). Das klingt wie die Vorwegnahme der Privatsender, mit denen so mancher öffentlich-rechtlicher Programmmacher seit ihrer Gründung zu konkurrieren müssen glaubt. Indes, die "Masse der Fernsehteilnehmer" macht heute längst in dubioser Weise Programm, die (ebenso dubiose) Chose nennt sich "Einschaltquote" (die Folgen einst vom Spiegel auseinanderklamüsert).


(*) "Lawinen der Erinnerung" wurde auf Arte am 19.09.2012 um 21.55 Uhr ausgestrahlt. Von da ab gezählt genau acht Tage lang lässt sich dieses Programm auf Arte+7 nachsehen.
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Foto: megaherz gmbh

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