Donnerstag, 6. September 2012

Berliner Salons

Willkommen auf den Seiten meines digitalen Arbeitstagebuchs. Hier berichte ich in möglichst kurzweiliger Form (anonymisiert und verallgemeinert) von meinem vielseitigen Alltag als Dolmetscherin und Übersetzerin. Heute werde ich mal wieder privat. Wir fangen an mit einem Establishing shot.

Berlin, Maybachufer, ein Jugendstilgebäude am Landwehrkanal im Spätsommer: Was macht die Sprachmittlerin nach Arbeitstag, Jogging und dîner? Manchmal geht sie mittwochs zu einer table ronde franco-allemande in ein Café, das ist ein deutsch-französischer Stammtisch, wie er in der Flächengroßstadt Berlin an wechselnden Orten stattfindet.

Hier unterhält sie sich langsam, geduldig und sanft korrigierend mit Deutschen, die Französisch noch lernen, spricht in hohem Tempo mit französischen Kollegen ... und freut sich, als spätabends nur noch Franzosen da sind. Sie folgt müde, aber nicht minder begeistert, der höchst dialektischen und spannenden Diskussion einer Französischlehrerin und eines in Berlin lebenden jungen Anwalts, der immerhin so bekannt ist, dass die Dolmetscherin schon sein gezeichnetes Konterfei in Le Monde bewundern durfte.

Die beiden streiten sehr kreativ über die Formen von Sprache und Vortrag, Grammatik und Phonetik im Französischen. Jeder der beiden hat seine Erfahrungen und Erkenntnisse, verwendet diese Sprache routiniert im Beruf und lebt einen Teil des Alltags auf Deutsch.

Roter Plüsch, Glas, Marmor, Mustertapete, schwere Teppiche ...
Pariser Salon von heute (Austragungsort von Interviews)
Abgesehen vom Deutsch-Schlenker und der Erwähnung mancher modernen Veränderung des Französischen hätte die Diskussion auch in einem Pariser Salon früherer Jahrhunderte stattfinden können. Die Sprachmittlerin hat öfter mit Drehbüchern oder historischen Themen zu tun. Plötzlich verschieben sich die Ebenen.

Sie sieht maître, den Anwalt, mit Perücke und gesäumtem Wams vor sich und Madame als bücherschreibende Gastgeberin, die nach Paris gereisten Ausländern aus dem Freundeskreis regelmäßig Hinweise zum richtigen Gebrauche des hierzulande verwendeten Idioms gibt. Sie hört das Rascheln von Seide, spürt einen leichten Windhauch, der auf die verhuschten Bewegungen der Bedienung beim Auffüllen der Gläser zurückgeht; ab und zu vernimmt sie in der Ferne sogar Hufschlag und das Geräusch von metallenen Reifen der Kutschen auf Kopfsteinplaster. Da, die Glocke. Es ist Zeit, aufzubrechen.

... und auf einmal sitze ich in einem Kreuzberger Café, das nach Karl Marx heißt, Bossa Nova wechselt hier mit dreckigem, von Blasinstrumenten dominiertem Jazz, und hinter uns steht ein ärmlich gekleideter Mann, der Straßenzeitungen verkaufen will. Vite, vite, wer noch die letzte |métro| U-Bahn erwischen will ...

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Foto: C.E.

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