Donnerstag, 5. März 2020

COVIDiary (1)

Bonjour, gu­ten Tag & hel­lo auf den Sei­ten des ers­ten deut­schen Dol­met­scher­blogs aus dem Inneren der Dol­metscherkabine. Derzeit schreibe ich in­des vom Über­set­zerschreibtisch. Hier denke ich über unseren Ar­beits­all­tag nach. Derzeit ist mal wieder alles im Umbruch. Der Blog aus dem Berufsalltag wird zum COVIDiary.

Altes Foto mit lesender junger Dame
Abwarten und Buch lesen
Ein ru­hi­ger Mittwoch­mor­gen im Büro, al­les ist eigent­lich wie immer. Auch die Straß­en sind und die Bahn gestern war durchaus belebt.
Doch ist etwas heute an­ders: Wir ha­ben |drei| vier un­be­stä­tig­te Kostenangebote drau­ßen, dazu vier Ab­sa­gen in Fol­ge für März. Nor­ma­ler­wei­se müssen wir keine 24 Stunden auf die Be­stä­ti­gung unserer Kos­ten­vor­an­schlä­ge warten.

So etwas hat es noch nie gegeben. Auch das nicht: Anfang März mehr als eine Anfrage für den späten Herbst vorliegen zu haben. In diesen Tagen sind alle tief verunsichert. Derzeit ver­su­chen die Länder, die Ausbreitung des Corona-Virus zu verlangsamen, was Fach­leu­ten zufolge nur schwer möglich ist. Durch die Glo­ba­li­sie­rung sind wir alle einander nähergerückt, durch den Siegeszug neo­li­be­ra­ler Wirt­schafts­ge­dan­ken wurden immer mehr Krankenhäuser pri­va­ti­siert oder ge­schlos­sen, gilt die Be­rei­tstel­lung von über­­zäh­­li­gen Betten als Geldver­schwendung. Die Kehrseite der Medaille erleben wir derzeit — beziehungsweise die Anfänge davon.

Außer in Sachsen-Anhalt treten in der ganzen Republik erste Fälle von Covid-19 auf. (Der Osten ist vermutlich länger sicheres Terrain, die Menschen dort sind är­mer, mal eben Woche für Ski oder Shopping eine Fernreise an­zu­treten nicht weit ver­brei­tet.) Wer immer sich für Home office ent­schei­den kann, macht dies. Dienst­rei­sen wer­den verboten, Eu­ro­-Be­­triebs­rats­­sit­zun­­gen abgesagt. Für uns Dol­met­scher be­deu­tet die Annul­lierung von Konferenzen, Messen und anderen Events eine existen­zielle Be­dro­hung, denn wir können ab­sehen, wie viele Monate unsere Rück­lagen reichen.

Mit der deutschen Einheit schien Lohnzurückhaltung in vielen Branchen lange das Gebot der Stunde, und der allgemeine Protest war gering, denn die Kosten für die Mo­der­ni­sie­rung von Infrastruktur im östlichen Teil und in Berlin mussten ja auch ir­gend­wie ge­stemmt werden. Verglichen mit Kaufkraftverlust und dem parallel er­folg­ten Abbau von Sozial­leis­tun­gen (nur zwei Beispiele: die 'Privati­sierung' von Ar­beits­unfähigkeits­versicherung sowie das Heraus­fallen von Schul- und Studien­jahren von Aka­de­mi­kern nach dem 16. Lebensjahr aus der Rente), verglichen da­mit also liegen unsere Honorare bei etwa der Hälfte des Niveaus, auf dem sie sich im Grun­de befinden müssten.

Schlechtwettergeld kennt unsere Branche nicht. Allein die Absage der In­ter­na­tio­na­len Tou­ris­mus­bör­se (ITB) soll Berlin ein Umsatzminus von Dutzenden Mil­lio­nen Euro bescheren. Da Bundes­mi­nis­terien die Absage em­pfoh­len hatten und das Co­ro­na­virus tatsächlich wie schlech­tes Wetter plötzlich da ist, berufen sich die Auf­trag­geber bei der An­nu­llie­rung von Terminen auf höhere Gewalt.

Ich muss immer an Herbst 1989 denken. Da sagte mir ein Leipziger Optiker diesen grandiosen Satz: "Wenn Du weißt, was die Zukunft bringt, hast Du schlechte In­for­manten!"

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Foto: Eigenes Archiv (Foto ca. 1900)

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