Freitag, 6. März 2020

COVIDiary (2)

Aus dem Büro komme ich gerade nicht raus. Nein, keine Quarantäne, sondern das Schreiben von Angeboten. Normalerweise würde ich heute in der Dol­met­scher­kabine sitzen, der Einsatz wurde abgesagt. Unsere Branche ist dieses Frühjahr schon wieder in Unordnung geraten, was nicht wie 2018 an der lang­sa­men Re­gie­rungs­bil­dung und auch nicht wie 2019 an der Focussierung aller auf den Brexit liegt.

Altes Foto: Schreibtisch, Bücherschrank, Sessel und Hermesstatue
Home office mit dem Götterboten Hermes (ca. 1900)
Im Büro ist es zu ruhig, unsere Kunden warten mit der Planung oder sagen ab. In allen deut­schen und französischen Un­ter­neh­men stehen die Zeichen auf zurückgehende Mobilität. Ar­bei­ten von zuhause ist ge­nau­so en vogue wie pri­va­te Vor­­­rats­käu­fe.

Die Coronakrise mit der Ri­si­ko­stufe "erhöht" ist sicher nicht ohne, zeigt aber auch komplett irrationale Züge.

Mir kommt die Stimmung vor wie das Ergebnis der gesammelten Unsicherheiten, in denen immer mehr Menschen leben: an­ge­fan­gen bei der ei­ge­nen wirt­schaft­li­chen Un­si­her­heit bis hin zu Globalisierung, Kriegs- und Flucht­be­we­gun­gen um uns herum sowie, last but not least, die Klimakatastrophe. Die daraus entstandenen Ängste wer­den jetzt auf das Virus projiziert. Hysterische Hams­ter­käu­fe, Frem­­den­feind­lich­keit und Gleichgültigkeit darüber, dass mancherorts in den EU-Staaten Ele­men­te der De­mo­kra­tie und Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden, sind die Fol­gen.

Wir Dolmetscher lesen regelmäßig Statistiken und wissenschaftliche Texte, dort geht es besonnen, aber sorgenvoll zu. Zynische Bemerkung: Mit Zunahme des Bil­dungs­grads sinkt der Aufregungsgrad. Leergekauft sind die Discounter, nicht die Bioläden.

Im Büro ist es trotzdem ungemütlich. Fachtagungen und Delegationsreisen sind in der Schwe­be. Der südfranzösische Markt für audiovisuelle Medien, die Messe MipTV in Can­nes, geplant für ab Ende März, ist ab­gesagt, die Messe für Serien soll im Sommer nachgeholt werden. Von Verschiebung (in den Juli) ist auch bei der Han­no­ver-Messe die Rede.

Wenn sich das Virus so verhält wie andere Viren, mag es weder Som­mer noch Son­ne, dann dürften die Fallzahlen mit steigenden Temperaturen signifikant zu­rück­ge­hen. Aber von welchen Ausgangszahlen her betrachtet wäre dieser Rück­gang? Ver­mut­lich von hohen bis sehr hohen.

Wirtschaft, Wissenschaft und Politik haben ihre Vorgaben und Fristen. Ich ahne, dass wenn jetzt für etliche gesetzlich oder vertraglich vorgeschriebene Ver­samm­lun­gen (Betriebsräte, Aktionäre, Wissenschaftler mit ihren Ver­öf­fent­li­chungs­pflich­ten) nur Absagen kommen, auch diese Termine nur ver­schoben sind, denn Pub­li­ka­tio­nen, Entlas­tungen von Vorständen und Aufsichts­rä­ten und Infor­ma­tions­fris­ten müssen nachgeholt bzw. gehalten werden.

Beine hoch und runterkommen
Das kann heit­er wer­den. Dass die ers­ten Herbst­bu­chun­gen schon vor­lie­gen, be­­deu­­tet, dass auch die ent­spre­chen­den Ta­gungs­ho­tels schon ge­bucht sein dürf­ten. Wenn es gut läuft, be­kom­men wir die­ses Jahr nur eine kurze Som­mer­pau­se und dür­­fen im Hoch­som­mer dol­­met­schen, der uns mög­li­cher­weise wieder Re­­kord­­tem­­pe­­ra­­tu­­ren be­sche­ren wird.
Aber unter dem Strich wird nur ein klei­ne­rer Teil der Einsätze von uns als Team nach­ge­holt werden könnnen. Wissenschaftlicher Austausch, Ko­or­di­nierung unter Politikern, allgemeines Handels­ge­schehen werden zu­rück­­ge­hen. Wenn das kom­­plet­te Kon­fe­renz­ge­sche­hen im Frühjahr wegbricht, ist es für immer weg.

Das ist wie bei einem Weih­nachts­baum­verkäufer, der sich in der Ad­vents­zeit einen kom­pli­zierten Beinbruch zu­zieht, er wird auch im Au­gust sein Geschäft nicht nach­holen kön­nen.

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Foto: Eigenes Archiv (1. Foto ca. 1900,
2. Foto von Otto-Heinrich Elias, ca. 1967)

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