Montag, 16. Mai 2016

Bilder in Worten (I)

Hallo, bonjour, hello auf meinen Blog­seiten aus dem Le­ben einer Pro­fi­dol­met­scher­in. Hier schreibe ich im neunten Jahr über die Arbeitswelt der Sprachen und über das, was mir sonst noch so auffällt. Die Gesellschaft erodiert. Sie zeichnet sich durch zunehmende Verrohung aus, an allen Stellen. Mein Sonntagsbild (am Feiertagsmontag) heute in Worten.

Kinderbuchklassiker von 1931
Ein Kind von ungefähr zehn, elf Jahren Jahren, das abends um halb zehn Uhr, als ich meine Abendrunde am Land­wehr­ka­nal dre­he, Flaschen sammelt: Ich ge­be ihm die im Rucksack vergessene kleine Wasserflasche und frage, ob ich ihn ein wenig begleiten darf. Etliche Par­ty­gän­ger hän­di­gen ihm seine Flaschen aus, beeilen sich mit dem Austrinken, schau­en mich dabei böse an ... (hal­ten sie mich für die Mut­ter?)
Der Kleine wühlt auch in unter den Müll­kör­ben abgestellte Pappkartons, in de­nen sich Müll sammelt. In der Woche vor Pfingsten scheint die Stadtreinigung bei dem guten Wetter und mit Tou­ris­ten und Par­ty­volk und nicht nachzukommen.

Das Kind zieht einen "Hackenporsche" hinter sich her, der bald voll ist. Ich biete mich an, ihn zu ziehen. Ich darf. Er nennt sich Manu (oder so ähnlich), wir ver­las­sen das stark besuchte Ufer des Landwehrkanals und schlagen uns in das Stra­ßen­wirr­war Nord-Neuköllns.

Der Junge wohnt zwanzig Minuten von mir entfernt. Das ach so angesagte, an­geb­lich hippe Neuköln ist und bleibt ein Armutsviertel, auch wenn am Ufer seit Jahren pinselsanierte, aus der Förderung herausgefallene Sozialbauten für knapp 4000 Eu­ro den Quadratmeter angeboten werden (die bislang überproportional oft als Ur­laubs­do­mi­zi­le zweckentfremdet wurden).

Ich darf die Flaschensammlung sogar ins Obergeschoss eines abgewohnten Wie­der­auf­bau­hau­ses tragen. Er bittet mich dann, unten auf ihn zu warten.

Später sitzen wir schweigend auf einer bankartigen Einfriedung einer Baumscheibe und stoßen mit Brause an, die ich zwischendurch schnell im Spätkauf um die Ecke gekauft habe. Langsam lässt er einige Brocken Informationen raus. Er gehe oft an­stel­le seiner Mutter Flaschen sammeln, und zwar immer dann wenn diese Besuch habe. Das sei derzeit fast jeden Abend der Fall. Sie würden "harzen", der Vater kä­me selten vorbei. Die Mutter hätte einen Job als Kellnerin ... manchmal, fügt er zögernd hinzu. In der Schule sei er nicht gut, aber gerade seien Ferien, das wäre "geil", denn er könne lange schlafen. Er sei Torwart, würde gerne Profifußballer und schwärme für Hertha BSC.

Wie lässt sich einem solchen Kind, von denen es immer mehr gibt, helfen? Die Be­hör­den, die bei Kindeswohlgefährdung einschreiten müssten, sind immer mehr über­for­dert, das weiß ich von einer Bekannten, die beim Jugendamt arbeitet und ihre Arbeit als "reine Schadensbegrenzung" bezeichnet.

Erich Kästners Anton würde heute keine Streichhölzer verkaufen. Er ist ein Flücht­lings­jun­ge oder aber er heißt Manu, kommt aus Neukölln und sammelt Pfand­fla­schen.

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Illustration: Buchcover

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