Heute: Link der Woche.
Ein Vierteljahrhundert deutsche Einheit, und noch immer ist diese Einheit eine große Baustelle. In Deutschland wurde in Sachen Bevölkerungspolitik wiederholt der psychische Teil vergessen, den Menschen nun einmal auch ausmachen. Das war bei der Zuwanderung durch die damals "Gastarbeiter" genannten Menschen so, das war bei der deutschen Einheit so, die bei zu vielen im tiefsten Sachsen oder im tiefsten Schwarzwald noch nicht verarbeitet wurde.
Wüstenprinzessin im LaGeSo |
Jetzt mehren sich die Berichte zu sexueller Gewalt und Übergriffen in Flüchtlingslagern, hier der Link zu einem Taz-Artikel. Und ich fühle mich einmal mehr wie die Kassandra, wie die Prophetin (naja, mit dem Namen), die aber im Lande nichts gilt.
Denn erste Mails und Briefe zum Thema verschicken wir, die wir als psychosoziale Begleitung mit Flüchtlingen arbeiten, seit Ende Juli. Irgendwie stellt sich der Eindruck ein, dass es niemand hören will. Die Behörden scheinen überfordert mit der Verwaltung des Alltags. Nein, sie scheinen nicht, sie sind überfordert. Woran liegt das?
Die Kontingentflüchtlinge und die Menschen aus dem Kossovo haben in den 1990-er Jahren keine derartigen Tumulte produziert, weder reell noch medial. Ziehen wir den Internetfaktor ab, heute sind Medien deshalb schneller, lauter, muss ich feststellen, dass nur zwei mögliche Erklärungen übrigbleiben: Der schlanke Staat ist derart auf seinen Kern reduziert, dass er stellenweise nicht funktionsfähig ist. (Ich möchte mir kein Erdbeben oder eine echte Katastrophe in Deutschland vorstellen.) Zweiter Punkt: Man hatte sich eingerichtet, abgeschottet. Dublin II ist nichts anderes als das Übertragen der Probleme auf die Anrainerstaaten, deren Wirtschaftsprobleme aber auch bekannt waren. Bei der Verwendung des Narrativs vom Exportweltmeister, der gut durch die Krise kommt, ist ein hohes Maß Realitätsverdrängung beteiligt. Und Empathiemangel.
Womit ich beim nächsten Thema wäre, beim Umgang mit den Mehrfachtraumatisierten. Derzeit gibt's noch nicht mal "satt-sauber-gesicherter-Schlafplatz-für-alle", in ersten Auffangslagern kommt ersten Zeugenaussagen zufolge auch schon "sediert" hinzu. Bitte mal kurz mitdenken und -fühlen: Wie ist es, nach einem grausamen Krieg und einer schrecklichen Flucht in einer großen Halle zu Hunderten zu schlafen, von denen nachts viele schreien und weinen, die angestaute Aggressionen haben, die auch ihre Prägungen mitgebracht haben, und dann merken Sie, dass Sie ständig müde sind, dass sich ein Schleier über ihre Wahrnehmung legt. (Die Zeugenaussagen sind aufgenommen, die Sache ging an die Behörden. Genauso wie seit Monaten die Behörden über den psychologischen Behandlungsbedarf vieler Geflüchteter informiert sind und dass das Ehrenamt hier an seine Grenzen stößt.)
Zurück auf die Meta-Ebene: Wir verschenken gerade wesentliche Monate, die der Verarbeitung, dem Sprachenlernen und damit der zur Integration gehören sollten. Die Verweildauer in den Massenunterkünften zu verdoppeln, wie durch den Gesetzgeber dieser Tage verfolgt, ist falsch und folgt nur dem Prinzip: Wir schaffen das nicht anders, also passen wir das Gesetz den Fakten an.
Dieser Tage bin ich oft sprachlos, auch, wenn ich an die Fehler aus den letzten 25 Jahren denke. Das ist kein Zustand für eine Dolmetscherin.
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Foto: Reinhard Ahrens
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