Mittwoch, 15. Juli 2015

Zweitwohnsitz

Bon­jour, guten Tag! Ich be­grü­ße Sie auf den Sei­ten mei­nes di­gi­ta­len Ar­beits­ta­ge­buchs. Ich weiß nicht, ob Sie absichtlich zu mir gefunden haben, oder ob der Zu­fall Sie hergeführt hat. Hier schreibe ich aus Paris, Berlin und anderen Orten über meinen Alltag als Konferenzdolmetscherin. Dabei sehe ich viele soziale Un­ter­schie­de.

Kräne am Horizont, im mittleren Bereich und im Vordergrund als Schatten
Hauptstadt der Kräne
Gestern, 15.00 Uhr, eine No­ta­ri­ats­fach­an­ge­stellte ruft an und fragt, was es koste, wenn ich um 17.00 Uhr einen Kaufvertrag am Kurfürstendamm dolmetschen komme. Ich frage, worum es geht. Bevor ich eine Zahl sagen kann, habe ich schon das Ex­po­sé im Briefkasten: "Jung­ge­sel­len­woh­nung im neu errichteten Gartenhaus eines Mit­te-Alt­baus, 34 Quadratmeter im Her­zen Ber­lins, Neubau mit Mar­­ken­­kü­­che, Kamin, Marmorbad (italienische Du­sche), Town­house-Appartment, se­nio­ren­gerecht: ja."

Seniorengerecht? Die Woh­nung ist mit dem Rolli zugänglich, liegt aber mitten in der Partyzone. Wir waren in der Gegend mal mit dem Büro. Es war laut.

Daher steht auch in der Wohnungsausschreibung weiter unten: "Ideale Stadt­wohn­ung als Zweitadresse, zur gelegentlichen Übernachtung in der Arbeitswoche ge­eig­net." Soso. Bevor ich das Exposé gesehen habe, ist meine Honorarsumme schon klar. Eine Dolmetscherkollegin, die in einer westdeutschen Kleinstadt im Gas­si­run­den­um­kreis einiger Notare wohnt, macht das on the fly, im Vorbeirennen, dann berechnet sie für die Stunde vor Ort 120 Euro, sie kennt die Verträge auswendig.

Ich veranschlage hier 400, und ich rechne laut: Eine Stunde am Kudamm dol­met­schen, höhere Hausnummer, plus 2 x 60 Minuten Fahrtzeit (laut www.bvg.de je ca. 43 Minuten je Weg, zzgl. Puffer), Einlesen auf der Hinfahrt bzw. in der ver­blei­ben­den Stunde vor dem Losrennen. Damit liege ich exakt bei dem, was das Justiz­ver­gü­tungs- und Entschädigungsgesetz für drei Stunden vorsieht, plus 100 Euro Eil­zu­schlag, ich muss ja meinen Abend umplanen. Das, was nachmit­tags lie­gen­bleibt, darf ich in der Spätschicht fertigstellen ... und die Theaterkarten ver­schen­ken.

Die Antwort kommt sofort, ich sei zu teuer, man habe so mit 50, 60 Euro ge­rech­net. Netter Versuch. Holen Sie sich doch für das Geld einen Handwerker, der bringt dann auch sein Werkzeug mit und zeigt es Ihnen gerne, jeder weitere Handschlag kostet extra. Und das zwei Stunden vor Termin!

Ach ja, die oben beschriebene Bude kostet ca. 9400 Euro je Quadratmeter und soll für knapp 320.000 Euro über den Tisch gegangen sein. Solche Wohnungen heißen übrigens deshalb Junggesellenwohnungen, weil darin jeder Mann zum Junggesellen mutiert. Der Satz vom "gelegentlichen Übernachten" sagt alles. Mein Filmtipp zum Blogeintrag: "Das Appartment" von Billy Wilder. Im Vergleich zu dieser Räu­ber­pis­to­le hier ist der Streifen wirklich gut!

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Foto: C.E.
Hierzu passt: Fünftwohnsitz

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