Donnerstag, 17. November 2011

Worte sammeln und Tee trinken

Berufsalltag will gut organisiert sein, vor allem bei uns Freiberuflern. Die spannenden Dolmetschjobs der letzten zehn Tage gingen leider an Studis, die sich nicht wie wir mit der bei Dolmetschern üblichen Diskretion an die Mailvorgaben der Ausschreibung hielten, sondern die direkt den obersten Verantwortlichen einer Veranstaltung anriefen und bestürmten, sowie an einen alten Hasen mit, räusper, Vergangenheit und sicherem Rentenbezug. Was lehrt uns das? Dreister sein?

Nein. Ich kann nicht verstehen, warum sich unerfahrener Dolmetschnachwuchs um schwere Aufträge reißt (das war einer). Ich erinnere mich mit Grausen an den jungen Mann, der einst heulend einen komplizierten Auftrag schmiss und dann Jahre brauchte, um sich vom Schock zu erholen. Und die Rentnernummer? |Abwarten| Vokabeln sammeln und Tee trinken.

Ich genieße die Ruhe vor und nach dem Sturm (anderer Jobs) und arbeite Wortfelder auf. Dazu gehe ich gern, wenn ich den weltbesten Patensohn in die Schule gebracht habe, in ein Café mit W-Lan und großer Auswahl an Printmedien.

Hier sitze ich nicht allein. Am Tisch neben mir entsteht die Presseschau für eine bekannte französische Tageszeitung. Der Journalist erkennt mich, meint schmunzelnd, dass der Korrespondent, der für die Konkurrenz schreibe, ein Bistrot weiter säße. Der Mann sammelt Infos, ich sammle Vokabeln, zwischendurch loben wir gemeinsam das Viertel.

Nein, es ist nicht mein nördliches Neukölln, in dem ich heute bin, sondern eine andere, beliebte Gegend der deutschen Hauptstadt. In meinem Kinderkrimi habe ich diesen Kiez, den ich, weil mein Patensohn hier schon lange wohnt, als zweite Berliner Heimat begreife, ein wenig dargestellt: Die Kirche, das große weiße, Doppelmietshaus und die anderen schmucken Fassaden mit Beletage und schönen Balkonen, den Spielplatz zwischen den Brandwänden, die französischen Lädchen, die Einkaufspassage und last but not least unsere Stammbuchhandlung in der Akazienstraße.

Und auf die Vokabel- folgt die Büroarbeit: Freitag sah ich den neuen Dardenne-Film in der Pressevorführung, anschließend hab ich mich rasch um den Dolmetschjob für die Press Junkets beworben. Bei den französischen Filmtagen Tübingen hat "Sarahs Schlüssel" gerade den Verleihförderpreis erhalten, da texte ich auch gleich eine Mail wegen möglicher Einsätze. Ich lese Filmkritiken, Ankündigungen von Filmdrehs, Filmfördernachrichten (in der mitgebrachten Fachpresse). Dann überlege ich, welche Filmkritiken ich als nächstes schreibe, denn das ist mein Hobby. Schnell noch einen Kostenvoranschlag für eine politische Diskussion erstellt, gleich ist auch schon wieder Zeit fürs Mittagessen. Einszweidrei, im Sauseschritt | Läuft die Zeit, wir laufen mit. (Wilhelm Busch)

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Foto: C.E.

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