Freitag, 16. Dezember 2022

Winter- und Kältegedanken

Hier bloggt eine Dolmet­sche­rin und Überse­tzerin. Als Sprach­ar­bei­te­rin komme ich stän­dig mit einer großen Bandbreite von The­men in Be­rüh­rung. Das ist ein Glück. Ich lerne oft mit Men­schen ken­nen, die Lö­sungen ent­wickelt ha­ben. Zu se­hen, wie quä­lend lang­sam sie an­schlie­ßend umgeset­zt werden, ist eine Last.

Morgenstimmung am Markt
Minus neun Grad am Morgen. Böse Fragen werden gerde laut: Ist Petrus et­wa ein Pu­tin­freund? Eisige Kälte liegt über Nord­europa. Meine Gedan­ken gehen an alle ohne Wärme und feste Wände, von Ost­europa über die Ob­dach­lo­sen bis hin zu den Markt­mitar­bei­ter:innen, die wenigs­tens am Abend in feste, warme Häuser zu­rück­keh­ren dür­fen.
Was können wir tun? DHL liefert derzeit gra­tis Spen­den­pa­kete in die Ukraine, ich hab mich einer Nach­ba­rin an­ge­schlos­sen und Inhalt geliefert. Grund­sätzlich: Diese Tem­pe­ra­turen sind schnell lebens­gefährlich. Es ist daher wichtig, dass wir anderen immer die Nummer des Kälte­bus­ses parat haben, beson­ders am Abend. Sonst kön­nen wir mit kleinen Gesten helfen.

Die Obdach­lo­sen brauchen war­me Klei­dung, Heiß­ge­tränke, immer wieder gehe ich zu Gemüse­schnip­pel­aben­den, wo Eintopf aus dem Gemüse ent­steht, das die Le­bens­mit­tel­stän­de des Markts am Abend ge­spen­det haben.

Ein weiterer gelisteter Baum ist weg

Anschließend geht es auf Verteilrunde, par­tir en ma­raude sagen die Franzosen dazu. Les ma­raudes au­près des per­sonnes SDF, Obdach­lose auf­suchen gehen.
Die SDF sind die per­son­nes sans do­mi­cile fixe, Mens­chen ohne stän­digen Wohn­sitz, auch sans-abri ge­nannt, "ohne Schutz", und das Wort maraude stammt aus dem 30-jährigen Krieg, als die kampf­unfäh­ig­en Soldaten marodierend durch die Ge­gend zogen und, da sie keinen Sold mehr be­ka­men, geplün­dert ha­ben, um zu über­le­ben.

Wörter haben so ihre Ge­schichte und Ent­wick­lung. So heißt die maraude auch je nach Kon­text im zivilen Leben "Mund­raub" oder "nach Kund­schaft Ausschau halten".

Grund­sätz­lich ist das alles nur Was­ser auf heiße Steine oder, der Jahres­zeit an­ge­passt, ein Eis­kris­tall im Kanal. Wir leis­ten uns eine Poli­tik, die es zehn Pro­zent der Ge­sell­schaft er­laubt, mehr als zwei Drittel des gesam­ten Vermögens ihr eigen zu nennen (70 Prozent davon sind ältere Män­ner). Und eine Politik, die nicht längst in großem Stil Wohnungen baut für Ob­dach­lo­se, Kriegs­wai­sen, kin­der­reiche Fa­mi­lien und Men­schen, die aus schlech­ten, über­teu­er­ten Wohn­ver­hält­nis­sen nicht raus­kom­men.

Menschen in Ob­dach­lo­sig­keit zu halten kostet mehr, als ihnen Wohn­raum zu ver­schaffen, das wissen wir längst durch Zahlen­vergleiche, und dass die Erst­ver­sor­gung mit Wohn­raum der bessere Weg ist, als von den Ob­dachlo­sen in diesem Kon­text z.B. den Entzug von Drogen als Voraussetzung zu erwarten. (Letzteres ist ein­fach nur sa­dis­tisch.) 

Am Ufer eine Hütte
Denn auf­su­chende Sozialarbeit, Notarzt­ein­sätze, Kältebus, Not­un­ter­künfte, die gesamte Kri­sen­­ver­­wal­tung ist aufwändig und teuer. Das vor Jahr­zehn­ten in den USA und Finnland ent­wickelte vorbildhafte Projekt "Housing first" hat bewiesen, dass einfache Woh­nungen mit dem Ange­bot einer be­darfs­an­ge­pass­ten Be­treu­ung der beste Weg aus dem Leid sind und dass die Menschen fast ausnahsmlos so in den Alltag zurück­finden. 

Das Modell wurde dann auch noch ein weiteres Mal in Berlin erprobt. Die Erfah­rungen wurden bestätigt. Und jetzt ist es an uns, die wir mit dem Al­ler­wer­tes­ten in der warmen oder nicht ganz so warmen Bude hocken, wir sparen ja alle Energie, Druck auf die Politik aus­zu­üben.

Und noch eine Bitte: Sammeln Sie Einweg­besteck aus Plastik oder aus Holz, das lässt sich prima spülen, geben Sie dieses zur Wei­ter­nut­zung an Menschen weiter, die sich für die Ob­dach­losen engagieren.

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Fotos: C.E.

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