Montag, 22. November 2021

COVIDiary (431)

Bonjour und guten Tag! Hier bloggt ei­ne Dol­met­sche­rin. Was Kon­fe­renz­dol­met­scher und Über­setzer machen, na­tür­lich auch wir Frau­en im Be­ruf, wie sie bzw. wir ar­beiten, ist hier seit 2007 re­gel­mä­ßig Thema, derzeit unter be­son­de­rer Be­rück­sich­ti­gung der all­ge­mei­nen Gesundheits­lage.

Fische im Aquarium
Something is fishy mit den Coronahilfen
Eine Konferenz­dol­metscherin ist in einer Pandemie wie ein Fisch, der auf ei­nem Camping­tisch Trocken­schwimm­übun­gen macht.

Naja, nicht ganz richtig, dieses Bild. Für den Fisch geht es böse aus. Wir Dol­met­scher und Dol­met­sche­rin­nen haben zum Glück mehr als Kiemen und au­ßer­dem meis­tens noch weitere Talente. 

Wie überleben so man­che Kol­legen und Kol­le­ginnen, wo doch die Regie­rung vor allem große Firmen, Banken und Ver­mieter absichert mit ihren Hilfen und uns aufs Hartz-IV-Amt für Grund­si­cherung schickt? (... von mir gerne H-IV und GruSi abgekürzt, da­mit ist klar, was ich davon halte.) Hier folgen einige Beispiele in kurzer Zu­sammen­fas­sung.


Kollegin A steht vier Mal in der Woche auf dem Markt und verkauft Bio-Le­bens­mit­tel. Da ihre große Tochter ausge­zogen ist, vermietet sie das freige­wordene Zimmer an eine Malerin, die ihr Atelier im Zuge der Berliner Im­mo­bi­lien­spe­ku­lation ver­lo­ren hat. Das Gäste­klo der Wohnung wurde dem neuen Atelier zu­ge­schlagen, im Bad ist noch eine Toilet­te. Die Kollegin lässt sich außer­dem ab und zu von einer Agentur mit Fern­dol­metsch­ein­sätzen aus­beu­ten. Diese Agentur bezahlt jenen, die die Arbeit machen, 350 Euro für einen ver­kür­zten Tag, und sie wird sicher den End­kun­den nicht unter 650, 700 dafür be­rech­nen.

Kollegin B kümmert sich um die Schul­auf­ga­ben ihrer Kinder, strickt wieder, macht bei Online­sport­kursen mit oder geht in den Park, wenn das Wetter es zu­lässt, nimmt einmal in der Woche vom Schlaf­zim­mer aus am "virtuellen Großraum­büro" teil, wenn wir mit einem wieder­holt unge­nutzten Zoom-Account eines Partners ein wenig Norma­lität simulieren, sie übersetzt und beglaubigt dann Urkun­den. Ihr Mann sichert sie wirt­schaf­tlich ab.

Kollegin C sitzt alle drei, vier Wochen im Zug und fährt auf eine deut­sche Bau­stel­le mit franzö­sischem Bau­herrn. Zu Beginn der Pan­demie reiste sie noch öfter, um ihren Vater zu pflegen. Sie hat einige Direkt­kunden, die sie zusätz­lich digital (und ohne Flasch­enhals, der Pro­zen­te kostet) beschäftigen. Lücken werden mit dem Re­ser­ve­budget für schwere Zeiten überbrückt.

Kollege D würde jetzt eigentlich zwei Kinder mit dem Dol­met­schen mit­er­nähren. Als junger Mann hat er oft als Fern­fahrer ge­ar­beitet, ihm blie­ben die Kontak­te, er sitzt nun wieder auf dem Bock und ist daran beteiligt, dass alle zu essen haben und woh­nen kön­nen. Seine Frau ist nicht glück­lich als de facto-al­lein­er­zie­hende Berufs­tätige.

Kollegin E hat einen of­fi­ziel­len Erstberuf. Sie ist an die Schule zurück­ge­kehrt bzw. unterrichtet online. Dane­ben bildet sie sich fort in Sachen Di­gi­ta­li­sie­rung der Leh­re. In zwei Jah­ren wird sie ir­gen­dwo (Details vergessen) ein Zerti­fikat er­werben und damit ein zweites Stand­bein haben.

Kollegin F hat schon immer Deutsch un­ter­rich­tet, an Sprach­schu­len auf ihren Welt­reisen, später In­te­gra­tion­skurse ge­ge­ben, dann auch mal Jour­na­lis­ten und Schau­spie­le­rin­nen. Sie sitzt auf Bali und gibt zwei Stunden täglich Online­kur­se. Ihre Woh­nung in Ber­lin hat sie an ein amerikanisches Wis­sen­schaft­ler­paar unter­richtet, die US-Hoch­schule zahlt, also hat sie den Mie­tpreis mal eben verdop­pelt.

Kollege G hat seine Woh­nung auf­ge­ge­ben, ist zu seiner de­men­ten Mutter gezogen, die er jetzt pflegt. Da­ne­ben hat er ein Fern­stu­dium im Fach Psy­cho­logie auf­ge­nom­men.

Das sind nur ei­ni­ge Bei­spie­le unter vielen.

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Illustration: C.E.

Sonntag, 21. November 2021

COVIDiary (430)

Hel­lo, bon­jour, gu­ten Tag! Ein­blicke in das Le­ben einer Sprach­ar­bei­terin können Sie hier ­ erhalten. Ich bin Dol­met­scherin für die fran­zö­sische Sprache, und ich über­set­ze auch aus dem En­g­li­schen. Paral­lel dazu beob­ach­te ich, wie sich die Spra­chen verändern.

Tot­en­sonn­tags­bild
Hier können Sie regel­mäßig Kurz­texte über Wörter, Aus­drücke, Hinter­gründe und sich verän­dernde Zu­sam­men­hänge lesen. Am Wo­chen­en­de wer­de ich pri­vat und zei­ge Sonn­tags­bil­der.
Heu­te stehe ich fas­sungs­los vor einem Gebäu­de und den­ke: Was für die Spra­che gilt, lässt sich auch bei Bau­werken ent­decken. Hier eine "Intu­bierte", der der Vo­gel des To­des schon auf der Schul­ter hockt.

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Foto:
C.E. (gesehen in Heidelberg)

Donnerstag, 11. November 2021

COVIDiary (425)

Hel­lo, bon­jour, gu­ten Tag! Ein­blicke in das Le­ben einer Sprach­ar­bei­terin können Sie hier erhalten. Ich bin Dol­met­scherin für die fran­zö­sische Spra­che, und ich über­set­ze auch aus dem En­g­li­schen. Die Wo­che geht mit ge­misch­ten Ge­fühlen in die Ziel­gerade.

Strichzeichnung: Eine Lady? Schwarz-weiß ...
Minimalistische Kunst im Herbstlicht

Die sani­tä­re Lage in Deutsch­land ist Schrei­ße, 50.000 Neu­in­fek­tio­nen an einem Tag, die Intensiv­sta­tionen laufen lang­sam zu.

Schreiße — wir Dol­met­scher:in­nen ver­wen­den sol­che Wör­ter nor­ma­ler­weise nicht, denn wir sind verbale Lei­se­tre­ter, spre­chen immer schön und über­aus ge­wählt, ganz so, als stün­den wir die gan­ze Zeit auf cosy Hoch­flor­tep­pichen, die hin­ter hun­dert Ber­gen von zarten Kin­der­händen ge­knüpft wur­den und in den Sa­lons der Haupt­stadt­re­prä­sen­tanzen von Wirtschaft und Po­li­tik liegen. Sagen wir's mal so: Solche Mi­lieus prä­gen. Dass wir im dolmet­schen­den Be­rufs­all­tag gro­be Wör­ter immer weniger grob wie­der­geben in der Über­tra­gung, ist häufig Selbst­schutz.

Denn wenn sich die Her­ren (also meis­tens sind es Herren) am Ende wieder ver­tra­gen, möchten ja, wir als Über­brin­ge­rin­nen dieses häss­lichen Voka­bu­lars ja nicht vom Hof gejagt werden. "Hof" ist hier auch das Stich­wort, die­ses Gebah­ren (ein­fa­che­res Wort dafür: Ver­halten) stammt aus hö­fi­schen Tagen. Höfisch und höflich klingen nicht zufällig ähnlich.

Strichzeichnung: Eine Lady? Dieses Mal bunt
... bunt und in Farbe

Verdamm­te Hacke, die aktu­ellen Fall­zah­len se­hen al­les an­de­re als gut aus. Wenn un­ser­ei­ner dann doch mal böse Wörter los­wer­den muss, behilft er oder sie sich gern mit Zi­ta­ten. Das "Schrei­ße" da oben stammt ver­mut­lich vom Über­set­zer­paar, das Al­fred Jar­rys Ubu Roi über­tra­gen hat. In die­sem The­ater­stück schreit ein klei­ner, ner­viger König im­mer wieder laut merdre, also die fran­zö­si­sche Ent­spre­chung mit dem rein­ge­schmug­gelten "R".

Noch ein Zitat: Ich winke rasch den Radio­lo­gen Frank Ulrich Mont­go­mery auf die Bühne, Eh­ren­vor­sit­zender der Ärzte­ge­werk­schaft Mar­burger Bund. Er hat kürz­lich zur La­ge ge­sagt: "Wir wer­den von ein paar lauten Voll­idio­ten in Geisel­haft ge­hal­ten."

König Ubu ließ immer alles im gro­ßen Loch ver­schwin­den, hinter oder unter der Fall­tür / Klappe / Ver­sen­kung mit einem don­nern­den: "À la trappe !" Das wür­de ich jetzt am liebs­ten der Pan­de­mie an­ge­deihen lassen. Hin­fort und weg mit ihr! Die Nase voll!

In Son­der­heit auch von jenen, die die Pan­demie gerade anfeuern, durch Impf­ver­wei­ge­rung, Karneval und Kol­lek­tiv­be­säuf­nisse und damit durch die wei­tere Fall­zu­nahme das Aus­brü­ten einer neuen Varian­te fördern. Wer macht sowas? Leute mit Fest­an­stel­lung und bes­tem Ren­ten­an­spruch, fürchte ich. Keine frei­be­ruf­li­chen Über­set­zerin­nen und Dol­met­scherin­nen. Uns, die wir in der Poli­tik und im For­schungs- und Mes­se­be­reich ar­bei­ten, zieht man er­neut den Bo­den unter den Fü­ßen weg.

Merk­wür­di­ger­weise zeich­nen sich deutsch­spra­chi­ge Länder gerade als Herde der Impf­ver­wei­ge­rung aus. Ausländische Presse wie die Fi­nan­cial Times beri­chtet da­rü­ber. Mir treibt das Scha­mes­röte ins Gesicht. Was für ein Schlag in die Ma­gen­grube fürs me­di­zi­nische Per­so­nal, das jetzt seit 21 Monaten kämpft! Si­cher gab es auch Ru­he­mo­men­te, auch nicht über­all ist Krise, aber die Ab­nah­me der In­ten­siv­bet­ten durch den Aus­stieg von Pfle­ge­kräf­ten kam ja auch nicht von un­gefähr.

Die Liste der mög­li­chen Neu­va­rian­ten von Covid-19 ist noch lang, das grie­chi­sche Al­pha­bet bie­tet als­dann Ep­si­lon, Zeta, Eta, Theta, Iota und et­liche mehr. (EDIT: An­de­re Län­der sind schon bei Lamb­da!) "Wel­ches Schwein­derl hät­ten's denn gern?", fragte Ro­bert Lemb­ke, der be­rühm­te Talk­mas­ter des deut­schen Fern­sehens, in den 1970ern. Wel­chen Buch­sta­ben soll die gerade in Deut­schland wahr­schein­lich er­brü­tete denn Varian­te tra­gen?

MERDRE!

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Foto:
C.E. (besser s/w oder bunt?)

Dienstag, 9. November 2021

COVIDiary (423)

Herz­lich will­kom­men! Hier bloggt ei­ne Dol­met­sche­rin. Was Kon­fe­renz­dol­met­scher und Über­setzer machen, und na­tür­lich auch wir Frau­en im Be­ruf, wie sie bzw. wir ar­beiten, ist hier seit 2007 re­gel­mä­ßig Thema, aber auch meine Er­fah­run­gen und Prä­gun­gen, die mich da­zu befä­hi­gen, in den Be­rei­chen Kul­tur, Po­li­tik, So­zia­les und Wirt­schaft zu ar­bei­ten. Denn Dol­met­schen setzt eine gute All­ge­mein­bil­dung vor­aus. Für ma­nche The­men hat mich die Her­kunft sen­si­bi­li­siert.

Gleich zu Beginn dieses tiefdunklen Monats No­vember liegt der deutsche Ge­denk­tag überhaupt. Schil­lernd lie­gen wie Schichten von Eis im ver­schmutzten Kanal­was­ser die Jahre über­ein­ander: 1848, 1918, 1923, 1938, 1989.

Gut, der zugefrorene Land­wehrkanal ist für später. Heute spreche ich vom 9. No­vem­ber. Die Folgen ei­ni­ger der seriellen Da­ten, Hitler­putsch, Ver­nich­tungs­politik gegen Minder­heiten und die Fol­gen wie Krieg und Tei­lung des Landes, haben meine Ge­schwister und ich jahr­zehn­te­lang im eigenen Leb­en stark erlebt.

Mit Mauer stimmt der Plural "jahr­zehn­te­lang" nur für mich, mit Tren­nungs­folgen des Lan­des für alle vier. Wir waren (sind?) Mauerkinder in dem Sinne, dass unsere nächs­ten An­ge­hö­ri­gen in der "Zone" ge­lebt ha­ben, wie unsere Oma es noch lan­ge gesagt hat, und da­mit nur schwer be­such­bar waren. Das hat uns nicht da­von ab­gehal­ten, dort oft zu sein. So oft, dass unser Va­ter in der West­re­pu­blik nach Gün­ter Guil­laume nicht die gro­ße be­ruf­liche Kar­riere ma­chen konnte, zu der er das Po­ten­tial hat­te, aber das ist eine an­dere (kaum erzäh­lte) Ge­schi­chte.

Mit dem Auto über Grenze zu fahren, war keine ein­fache Sache. Wir Kin­der wurden zum Klappe­halten ver­donnert. Wir sind alle recht ge­sprächig, und in li­beralen Fa­mi­lien kamen solche Sprüche mit Bas­ta-Men­ta­li­tät höchst sel­ten. Ich habe das Ge­fühl noch in den Kno­chen: Erst müssen wir lange, sehr lange war­ten, dann treten frem­de Leute mit Macht und in Uni­form ans Auto heran und geben ihre Be­feh­le. Die El­tern haben Angst. Die sonst immer so mäch­ti­gen und einen sicher be­schüt­zenden Eltern ha­ben Angst!

Das wa­ren schon prägende Er­fah­rungen.
Grenz­über­gangs­stelle Dre­witz-Drei­linden alias Check­point Bravo (1986)

Höchst ir­ri­tie­rend für mich: Diese Lüt­ten sehen aus wie meine jüngs­ten Ge­schwis­ter in jün­geren Jahren. Sie können es gar nicht sein, es sei denn, das Bild würde von 1981 stam­men und meine El­tern hätten die Mi­nis mal mit an­de­ren Eltern rei­sen las­sen. Quatsch!

Mein zweiter Bruder ver­mel­det in­zwi­schen auf das Bild, er habe die Grenz­über­gangs­si­tuatio­nen gar nicht als sooo schlimm in Er­in­ne­rung.
Umso besser!

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Foto:
Foto von David Wintzer, Wikicommons

Mittwoch, 3. November 2021

COVIDiary (419)

Bien­ve­nue auf den Sei­ten einer Sprachar­bei­te­rin. Wir Über­setzerin­nen, Über­set­zer, Dol­metscherinnen und Dolmetscher ar­beiten seit Beginn der Pan­demie we­ni­ger als zu­vor. Die Ein­sät­ze sind kom­ple­xer ge­wor­den, noch an­stren­gen­der als frü­her. Dies ist eine Fest­stel­lung, keine Be­schwer­de! Wir küm­mern uns schon um uns.

"Je simpler die Antwort auf eine komplexe Frage ist, desto wahrscheinlicher ist sie falsch." Daran musste ich gestern im Zug denken, als ich vom Einsatz zurückkam.

Es gibt Tage und Wochen, da machen mich die einfachen Antworten eines Teils der Gesell­schaft einfach nur müde. Ich muss dann immer sehr aufpassen, gezielt etwas zum Aus­gleich zu machen, zu den Pinseln zu greifen wäre eine Sache, die his­to­ri­schen Fotos zu sortie­ren oder mich mit Lieblings­buch, Tee und einer Woll­decke in den Sessel zu fle­zen, wären solche Aktivi­täten die hel­fen, um an der Menschheit nicht zu ver­zwei­feln. Das sind Tage, an denen ich nur zwei­mal Nach­rich­ten lese.

Wenn ich unter­wegs beim Einsatz bin, geht das we­ni­ger gut, da ist die innere Emi­gra­tion nicht so leicht. Lesen hilft da schon, klassi­sche Musik auch, so­gar Vo­ka­bel­pauk­tran­ce kann hilfreich sein. Zum Glück haben wir Sprach­ar­beiterinnen grund­sätz­lich gute Laune, das hab ich ja ges­tern schon an­ge­deutet. Warum? Die Arbeit ist schwer genug, warum sollten wir sie uns mit schlechter Laune noch schwerer machen?

Hotel: schummrig, Kerze: abgebrannt, Tischlampe: schwach, Badezimmerlampe: gemütlich
Alles eine Fra­ge des Lichts
Es gibt wei­tere Hilfs­mit­tel. Licht ist eins. Der nass­dunk­le Herbst­teil ist an­ge­bro­chen. Schon ges­tern Abend habe ich im Hotel­zim­mer damit be­gon­nen, über Be­leuch­tung nach­zu­den­ken. Nach einem spä­ten Mit­tag­es­sen wie­der zu­hau­se, hilft eine Kerze beim Kaf­fee­. Wie wär's mit ei­ner Le­se­lampe zum Ak­ten­stu­dium am Be­spre­chungs­tisch? Und was ist als neu­es Licht im Bad denk­bar, das Well­­ness­stim­mung schafft?
Jene Para­meter an­zu­ge­hen, die ich selbst ver­än­dern kann, das ist mein Mittel der Wahl für eine po­si­tive Stim­mung. Die alte Zeit wird hier nicht ver­herr­licht: Rien n’est plus res­ponsable du « bon vieux temps » qu’une mau­vaise mémoire.

Auf Deutsch: "Nichts ist so sehr für die 'gute alte Zeit' ver­ant­wort­lich wie ein schlech­tes Ge­dächt­nis." (Anatole France)

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Fotos: C.E.

Dienstag, 2. November 2021

COVIDiary (418)

Was Dol­met­scher­in­nen und Dol­met­scher so erleben, können Sie hier mit­ver­folgen. Ich arbeite mit den Sprachen Fran­zösisch und Eng­lisch. Wir sind im zweiten Co­ro­na­herbst. Anders als früher, als ich meistens vor Ort tätig war, ar­beite ich jetzt oft aus der Ferne.

Immer wieder dolmet­schen wir auf Bau­stellen, bei der Sanie­rung von altem Be­stand mit öko­lo­gi­schen Bau­stof­fen ebenso wie im Industrie­sektor. Dieses Dol­met­schen findet zwischendurch oft online statt, was die Ar­beit manch­mal leichter macht: Mit Hilfsmitteln lässt sich das besser be­werk­stel­ligen als ohne.

Internetanschluss kurz vor dem Anschluss
Bald auch online
Hier folgt ein Beispiel­satz aus der in­dus­tri­el­len Kühl­technik, bei der un­ser­ei­ner froh ist, wenn beim Dolmetschen fünf, sechs Grund­be­griffe be­kannt und zudem eine (zumin­dest grobe) Idee vom tech­ni­schen Vor­gang vor­han­den ist, der dem Gan­­zen zu­grun­de liegt:

"Kon­den­sa­to­ren, die luft­ge­kühlt sind, oder Verdam­pfer, die ab­raum­luft­be­heizt wer­den, be­ste­hen aus einem kombinier­ten Lüfter-Verdam­pferge­häu­se, in dem rip­pen­artig ge­bo­gene Kühl­mit­tel­roh­re ange­ord­net sind, er­gänzt durch min­des­tens ein Ge­blä­se, wobei die Kühl­mit­tel­rohre halb­kreis­för­mig und in Ab­stän­den über­ein­an­der mit einem jeweils kons­tan­ten Radius an­ge­ord­net sind ..."

Die all­ge­mei­ne Bau­lexik aller 13 Gewer­ke umfasst jetzt 110 Seiten, die ver­kürz­te nur zwölf, die lässt sich schnel­ler durch­blät­tern. Die größte Bau­stelle ist leider in Verzug geraten, erst Corona, dann Hoch­was­ser, jetzt Bau­ma­te­rial­man­gel. Keine ein­fa­chen Zeiten sind das. Wir Dolmetscher:innen bleiben indes immer ruhig und positiv. Alles andere wäre kon­tra­pro­duk­tiv.

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Foto: C.E.

Montag, 1. November 2021

COVIDiary (417)

Hal­lo! Sie sind auf den Sei­ten eines di­gi­talen Ar­beits­ta­ge­buchs gelan­det. Hier fin­den Sie Bilder und Mo­mente aus dem All­tag einer Dol­metscherin in Pan­de­mie­zei­ten. Meine Spra­chen sind Fran­zö­sisch, Eng­lisch und natür­lich auch Deutsch, meine Mut­ter­spra­che.

Kreativer Kopf (Kunst)
Kopf, nicht von Pappe
Es gibt Tage, da erinnere ich mich gerne an meine Kunden. Und dann gibt es sol­che, Kunden, nicht Tage, die würde ich lieber heute als mor­gen ver­gessen. Wie diese fran­zösi­sch­spra­chige Klein­familie, die schwer zur Boboisierung (s.u.) Berlins mit ihren schlech­testen Ausprä­gun­gen beige­tragen hat. Einige Male durfte ich die Leute zu Ämtern be­glei­ten, zur Ein­schu­lungs­un­ter­su­chung der Tochter und zu Gericht. Die Fa­mi­lie schien immer klamm, so zu­mindest bei der Ho­no­rar­ver­hand­lung. An­sonsten hat sie auf großem Fuße gelebt. Und eine Über­wei­sung meiner Ho­norar­note konnte schon mal Monate in An­spruch nehmen.

Eines Tages bekam ich eine Mail. Ich wartete gerade wieder auf eine Überwei­sung. 

Ob ich nicht vielleicht das schöne Designer­sofa über­nehmen wolle statt der Bezah­lung, Foto im Anhang, wurde ich gefragt. Der De­signer ist namhaft, weltweit, die Möbel gelten als elegant, ich finde sie aber ebenso un­be­quem wie un­prak­tisch. Hier folgt kein Marken­name, kein Bild. Der Ärger muss nicht noch größer werden.

Mit einer zweiten Mail, ver­sendet an eine grö­ßere, anony­me Grup­pe, er­reichte mich eine Woh­nungs­an­zeige. Man werde aus beruflichen Gründen Berlin verlas­sen, ziehe nach Lon­don. Die schöne neue Wohnung am Gleis­dreieck sei jetzt frei, 180-Grad-Blick auf den Park und Rich­tung Pots­damer Platz würden hier geboten, 120 Qua­drat­meter für 3100 Euro warm, mit Kamin und zwei Tiefgaragestellplätzen, nur 15 Minuten Fußweg zur franzö­si­schen Grund­schule Voltaire. Ich ahne, in welchem Neubau­bereich die résidence tant aimée liegt, das "so sehr gelieb­te Anwesen".

Kreativer Kopf (Kunst)
Kein Holzkopf
Idéal pour une famille d'expats, steht da noch, ideal für eine Fami­lie von Expats, expatriés, außer­halb der Heimat le­bende und ar­bei­tende Menschen, die (eigent­lich engli­sche) Exklusiv­form des Wortes "Gast­ar­bei­ter". 

Der Familien­vater war nicht politisch-dip­lo­matisch tätig, wie manche unserer Privat­kun­den, sondern für ein deutsches Groß­un­ternehmen, das fran­zö­sisches Geld fi­nan­ziert. Maman gab ab und zu Yogastunden, und sie entwarf Kinder­kleidung für ein La­bel, bei dem ein einzi­ges Kleid­­chen so viel kostet wie die Restau­rierung meines alten Kleider­schranks samt neuer Kleidung ge­kos­tet hat. Ich über­treibe, ja, aber nur mini­mal.


Vokabelnotiz
La boboïsation
— die Schi­cki­micki­fi­zierung, das wäre zumin­dest mein be­schei­de­ner Ter­mi­no­lo­gie­vorschlag. Bour­geois bohème sind jene Bour­geois, die sich für Bohème halten, mit ihrem Verhalten diese aber zerstören. Auch in Deutsch­land macht die Schi­cki­micki­be­völkerung aus einst hippen Vierteln eine muse­ali­sier­te, kaputt­sa­nierte Pup­penstuben­welt.
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Bilder:
gesehen in einer Behinderten-
werkstatt (bearbeitet)