Bei Dolmetscheinsätzen kommt es vor, dass Gäste im Raum auch unsere Arbeitssprachen sprechen. Das ist völlig normal, stört uns keinesfalls. Im Gegenteil, je besser die betreffende Person beide Sprachen spricht, desto besser kann sie sie einschätzen, was wir leisten. Sehr oft entstanden Empfehlungen und neue Kundenbeziehungen aus solchen Momenten.
Schwieriger ist es, wenn jemand ein wenig Französisch kann und auch noch sehr stolz darauf ist. Vor einigen Jahren ist mir an einem 1. September mal etwas in diesem Zusammenhang passiert.
Hier spricht die Dolmetscherin |
Der Tag ist in Deutschland der Antikriegstag, denn die Wehrmacht hat an einem 1. September Polen überfallen und damit den Zweiten Weltkrieg begonnen. In Frankreich bedeutet dieser Tag den Neustart in die Saison — und mit "Saison" ist es auch der Start in ein neues Jahr.
Das Wort Saison ist hier im Sinne von 'Theatersaison' oder 'akademisches Jahr' zu verstehen. Am 1. September kehren französische die Schüler zurück in die Klassen, es ist der Beginn der sogenannten rentrée, dem schulischen, ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Herbstanfang.
Der Verweis
Daraus folgt, dass Ereignisse, die vor der großen Sommerpause stattgefunden haben, gerne als l'année dernière zugeschrieben werden, letztes Jahr also.
Vor Jahren hat ein französischer Gast bei einem deutsch-französischen Meeting von Industriellen, das an einem 1. September stattfand, über eine Zusammenkunft im März berichtet. Später bezog er sich auf das Treffen und sagte l'année dernière. Er meinte genau diesen Termin, das war aus verschiedenen Gründen klar, der Verweis auf "früher im Jahr", so habe ich es gedolmetscht, wurde von allen, die dabei waren, mit einem Nicken aufgenommen.
Die Blutgrätsche
Nur ein Herr starrte mich an. Vielleicht war er neu, vielleicht war er aus anderen Gründen nicht beim Frühjahrstreffen dabei gewesen, vielleicht musste er sich profilieren in der testosterondominierten Vorstandsrunde. Auf jeden Fall wurde er leider sofort unangenehm und sagte: „Hier muss ich reingrätschen, der Dolmetscherin ist ein Fehler unterlaufen! Monsieur Soundso hat 'letztes Jahr' gesagt und nicht 'früher im Jahr'!"
Die Franzosen im Raum schauten mich irritiert an. Wir saßen noch nicht lange zusammen, waren in der Anwärmphase, in der es im frankophonen Raum immer sehr höflich zugeht. Sie hatten zwar nicht verstanden, was der Betroffene gesagt hatte, wie er es gesagt hatte, war allerdings unmissverständlich. Für mich war das Wort "reingrätschen" problematisch, für das ich im Französischen keine Entsprechung kenne, zumindest nicht vom Fußballfeld, für die anderen Lautstärke und Gesten des Teilnehmers.
Die Reaktion
Schrecksekunde! Dann habe ich dann mit sanfter Stimme diese Worte sinngemäß übertragen, "ich würde gerne intervenieren", j'aimerais intervenir, und nicht "ich muss" ... und es am Ende in eine Frage münden lassen: "Sind Sie sicher, dass Sie dieses Jahr meinen ... oder nicht doch vielleicht letztes?"
Der Franzose hat dann sehr freundlich geantwortet, dass es vielleicht missverständlich gewesen sei und dass er durchaus den letzten März meine.
Das Gespräch ging ruhig weiter. Auch die Bulldogge im weißem Hemdkragen war anschließend friedlich. Alle haben ihr Gesicht wahren können. Auch das sind die Aufgaben einer Konferenzdolmetscherin.
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Foto: C.E. (Archiv)
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