Mittwoch, 1. September 2021

COVIDiary (372)

Herz­lich will­kom­men auf den Blog­sei­ten ei­ner Dol­met­sche­rin. Was Kon­fe­renz­dol­metscher und Über­setzer machen, wie sie arbeiten, wie sie leben, ist hier seit 2007 re­gel­mä­ßig Thema. Außerdem denke ich über die Spra­chen und Unterschiede zwischen den Kul­turen nach. Durch das viele Nach­denken im Vor­feld kann ich spä­ter, wenn es nötig ist, be­sonnen reagieren.

Bei Dolmetsch­ein­sätzen kommt es vor, dass Gäste im Raum auch unsere Ar­beits­spra­chen sprechen. Das ist völlig nor­mal, stört uns keines­falls. Im Ge­gen­teil, je besser die betref­fende Person beide Spra­chen spricht, desto besser kann sie sie ein­schät­zen, was wir leisten. Sehr oft entstan­den Empfeh­lungen und neue Kun­den­be­zie­hun­gen aus solchen Momenten.

Schwieriger ist es, wenn jemand ein wenig Franzö­sisch kann und auch noch sehr stolz darauf ist. Vor ei­ni­gen Jahren ist mir an einem 1. Sep­tember mal etwas in diesem Zu­sam­men­hang passiert.

Hier spricht die Dolmetscherin
Ich muss kurz ausho­len: Der 1. Sep­tem­ber steht in Frankreich und Deutsch­land für komplett un­ter­schied­li­che Dinge.
Der Tag ist in Deutschland der An­ti­kriegs­tag, denn die Wehr­macht hat an einem 1. Sep­tem­ber Polen überfallen und damit den Zwei­ten Weltkrieg be­gon­nen. In Frank­reich be­deu­tet dieser Tag den Neu­start in die Sai­son — und mit "Saison" ist es auch der Start in ein neues Jahr. 

Das Wort Sai­son ist hier im Sinne von 'Theatersaison' oder 'akade­misches Jahr' zu verstehen. Am 1. September kehren franzö­sische die Schüler zurück in die Klassen, es ist der Beginn der so­ge­nann­ten rentrée, dem schu­li­schen, ökono­mi­schen, poli­ti­schen, gesell­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Herbst­an­fang.

Der Verweis

Daraus folgt, dass Ereignisse, die vor der großen Som­mer­pause stattgefunden ha­ben, gerne als l'année dernière zugeschrieben werden, letztes Jahr also.

Vor Jahren hat ein fran­zö­sischer Gast bei einem deutsch-franzö­sischen Meeting von Industriellen, das an einem 1. September stattfand, über eine Zusam­men­kunft im März be­rich­tet. Später bezog er sich auf das Tref­fen und sagte l'année der­nière. Er meinte genau diesen Termin, das war aus verschie­denen Gründen klar, der Ver­weis auf "früher im Jahr", so habe ich es gedol­metscht, wurde von allen, die dabei waren, mit einem Nicken aufgenommen.

Die Blutgrätsche

Nur ein Herr starrte mich an. Vielleicht war er neu, vielleicht war er aus anderen Gründen nicht beim Frühjahrs­treffen dabei gewesen, vielleicht musste er sich pro­fi­lie­ren in der testosteron­do­mi­nier­ten Vor­stands­runde. Auf jeden Fall wurde er leider sofort un­an­ge­nehm und sagte: „Hier muss ich reing­rät­schen, der Dolmet­scherin ist ein Feh­ler unterlaufen! Mon­sieur Soundso hat 'letztes Jahr' gesagt und nicht 'früher im Jahr'!"

Die Franzosen im Raum schauten mich irritiert an. Wir sa­ßen noch nicht lan­ge zu­sam­men, waren in der An­wärm­pha­se, in der es im fran­ko­pho­nen Raum immer sehr höf­lich zugeht. Sie hatten zwar nicht verstanden, was der Betroffene gesagt hatte, wie er es gesagt hatte, war aller­dings unmiss­verständlich. Für mich war das Wort "reingrät­schen" prob­le­ma­tisch, für das ich im Franzö­sischen keine Entspre­chung kenne, zumindest nicht vom Fußballfeld, für die anderen Laut­stärke und Gesten des Teil­nehmers.

Die Reaktion

Schreckse­kunde! Dann habe ich dann mit san­fter Stimme diese Worte sinn­ge­mäß übertragen, "ich würde gerne in­ter­ve­nieren", j'aime­rais in­ter­ve­nir, und nicht "ich muss" ... und es am Ende in eine Fra­ge münden las­sen: "Sind Sie sicher, dass Sie dieses Jahr meinen ... oder nicht doch vielleicht letztes?"

Der Fran­zose hat dann sehr freund­lich ge­ant­wortet, dass es vielleicht miss­ver­ständ­lich gewesen sei und dass er durchaus den letzten März meine.

Das Gespräch ging ruhig weiter. Auch die Bull­dogge im weißem Hemd­kragen war an­schlie­ßend friedlich. Alle haben ihr Ge­sicht wahren können. Auch das sind die Auf­gaben einer Kon­fe­renz­dol­met­scherin.

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Foto: C.E. (Archiv)

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