Mittwoch, 26. Mai 2021

COVIDiary (316)

Herz­lich will­kom­men auf den Blog­sei­ten ei­ner Dol­met­sche­rin. Was Kon­fe­renz­dol­metscher und Übersetzer machen, wie sie arbeiten, wie sie leben, ist hier seit 2007 re­gel­mä­ßig Thema. Außerdem denke ich über un­sere Arbeits­be­din­gungen nach. Der Corona­virus hat aus dem Arbeits­ta­ge­buch ein subjekti­ves COVIDiary gemacht.

Nächster Halt: Bibliothek
Es ist kalt in der Stadt, nur das Licht ist frühlingshaft und das satte Grün überall.  Heute habe ich schon wieder nicht gegen Honorar gearbeitet, sondern un­sere künftigen Ar­beits­be­din­gun­gen verbessert.

Neulich hat­ten wir ei­ne An­­frage zu einer hy­bri­den Konferenz. Bis zu zehn Men­schen sollen sich bald in einem Kon­fe­renz­saal be­fin­den, der Rest per Zoom zu­ge­schaltet, bei insgesamt drei Spra­chen arbeiten wir zu viert in vier Kabi­nen, zwei sind vor Ort fest ver­­baut, zwei werden hin­zu­­ge­­stellt.

Jetzt also der Vor-Ort-Termin. Wie lösen wir das, wenn die Vortragenden sich an ein- und demselben Rednerpult abwechseln sollen, auf das eine Kamera gerichtet ist, außerdem gibt es eine Kamera, die den gesamten Raum aufnimmt, sowie eine weitere, vor­zugs­wei­se automatisierte Kamera, die drei antwortende Wis­sen­schaft­ler*innen vor Ort filmen soll?

Und wie ändern wir für die Zukunft Dolmet­scherkabinen, in denen wir künftig wohl wieder zu zweit sitzen dürfen, wenn ein Teil der Konferenz­teilnehmer aber fortge­setzt über Zoom zuge­schaltet werden wird? Einige bauliche Ideen hatte ich sofort, andere werden folgen, Ideen, über die sich alle Betei­ligten im ersten Moment ge­freut, im zwei­ten Moment indes gewundert haben.

Und jetzt wundere ich mich, dass sich alle darüber wundern, dass eine aktive Dol­met­sche­rin gute Ideen zur Gestaltung des eigenen Arbeitsplatzes hat. Es ist oh­ne­hin ver­wun­derlich, dass das Heer von Architekten, deren gebaute Vor­stel­lungs­kraft wir regelmäßig an Arbeitstagen inspizieren dürfen, so wenig ausreicht, um die ei­ge­nen Grenzen zu erkennen. Will sagen: 99 % der neu­ge­bau­ten, fest in­stal­lier­ten Dolmetscherka­binen außerhalb der interna­tionalen Institutionen zeugen von ab­so­lut totaler und kompletter Ignoranz dessen, was wir Dolmetscher*innen be­ruf­lich so machen. In dieser Architektur gewordenen Ah­nungs­lo­sig­keit lässt sich nur be­dingt professionell arbeiten, weshalb ich etliche dieser Orte im Re­gie­rungs­­vier­tel bereits als Stuhl­lager oder teurer Putzmit­telschrank gesehen habe.

Hiermit präsentiere ich einen neuen Punkt in meinem Portfolio: Beraterin für die archi­tek­tonische und technische Umsetzung von Konferenz­orten und hybriden Kon­ferenz­settings, ab jetzt auf Honorarbasis, die Höhe ist Verhandlungs­sache.

Auf der Rückfahrt dann Lesende in der Hochbahnstation, eingemummelt, als wäre noch Winter: Ich liebe den Anblick lesender, informationssüchtiger Menschen, ich kann nicht anders.

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Foto: C.E.

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