Als ich heute Mittag vom Außentermin nach Hause komme, sitzt ein Kind bei uns auf der Treppe. Das Mädchen hatte hitzefrei und seine Mutter war kurzfristig beim Arzt. Sonst sei es ja ein Schlüsselkind, sagt es, nur heute hätte es den Schlüssel vergessen. Ich biete ihm den Besprechungstisch in meinem Arbeitszimmer an und etwas zu trinken. (Hunger hat es nicht, die Hitze!) Es macht Hausaufgaben. Parallel dazu habe ich per Skype ein Vorstellungsgespräch mit einem Kunden, für den ich vielleicht im Herbst als Mediendolmetscherin arbeiten werde.
Castingähnliche Verhältnisse beim Dolmetschen sind neu. Hier geht es vor allem um Stimme und Prosodie. Ich darf probedolmetschen. Die Grundschülerin in meinem Rücken schaut auf, beobachtet mich dabei aufmerksam (so sagt es später mein Gegenüber in Frankreich).
Zu klein für Schlüsselkind (1929) |
Nach einigen Minuten bin ich "drin", sitze ruhig da, schließe die Augen und tauche tief ein in die Rede. Der Flow stellt sich ein, diese Versunkenheit, in der Sprecherin, die Dame vom Monitor, und Nachsprecherin, also ich, wie mit einer Stimme sprechen.
Dann ist der Test auch schon vorbei. Das Kind macht mit den Hausaufgaben weiter, dieses Mal fällt mir die Dynamikänderung neben bzw. schräg hinter mir auf. Am Ende fragt mich der Interviewer in Frankreich, ein Kollege, ob ich noch eine Frage hätte. Erstmal nicht.
Wir kommen auf das Kind zu sprechen (das uns nicht versteht). Der Interviewer, ein Kollege, lobt es für seine Konzentriertheit. Er hält es für meine Tochter. Ich kläre das Missverständnis auf und wir suchen gemeinsam noch das französische Wort für "Schlüsselkind". Das gibt es nicht, sowas ist wie die Ganztagsschule jenseits des Rheins nicht der Rede wert.
Als Entsprechung für den Dreisilber "Schlüsselkind" kommen wir auf die Umschreibung enfant qui a la clef pour rentrer chez lui en l’absence de ses parents. Das sind 18 Silben. In der Dolmetscherkabine, wo Zeit rar ist, ein Ding der Unmöglichkeit.
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Foto: eigenes Archiv
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