Mittwoch, 5. Juni 2019

Im Flow

Guten Tag, bonjour & hello! Was Dol­met­scher und Über­setzer so alles er­le­ben, können Sie hier mitlesen. Wir ar­bei­ten als Team über­wie­gend in Ber­lin, aber auch in Pa­ris, Köln, Reims und dort, wo man uns braucht. Wo immer wir tätig sind, das Arbeitszimmer steht immer im Mittelpunkt. Dort sind wir nicht immer allein.

Als ich heute Mittag vom Außen­termin nach Hause komme, sitzt ein Kind bei uns auf der Treppe. Das Mäd­chen hatte hitzefrei und seine Mutter war kurzfristig beim Arzt. Sonst sei es ja ein Schlüsselkind, sagt es, nur heute hätte es den Schlüssel ver­ges­sen. Ich biete ihm den Bespre­chungs­tisch in meinem Arbeits­zimmer an und etwas zu trinken. (Hunger hat es nicht, die Hitze!) Es macht Haus­auf­gaben. Parallel dazu habe ich per Skype ein Vorstel­lungs­gespräch mit ei­nem Kunden, für den ich vielleicht im Herbst als Me­dien­­dol­­met­scherin arbeiten werde.

Castingähnliche Verhältnisse beim Dolmetschen sind neu. Hier geht es vor allem um Stimme und Prosodie. Ich darf probedolmetschen. Die Grundschü­le­rin in mei­nem Rücken schaut auf, beobachtet mich dabei aufmerksam (so sagt es später mein Gegenüber in Frankreich).

Vierjährige mit Teddy sitzt auf dem Esstisch
Zu klein für Schlüsselkind (1929)
Auf dem Monitor vor mir läuft die Auf­nahme einer Red­nerin ab. Da­ne­ben ist eine Vokabel­liste geöffnet. Ich setze mir nur einen Kopf­hörer auf, die Mu­schel des anderen Ohrs er­gänze ich, in dem ich mit der Hand ei­ne Art zweiter Mu­schel bilde, um meine ei­ge­ne Stim­me bes­ser zu hören. Ich ha­be die Red­nerin fest im Blick. Kurz schaue ich eine Vo­ka­bel nach.

Nach eini­gen Minu­ten bin ich "drin", sitze ruhig da, schließe die Augen und tauche tief ein in die Rede. Der Flow stellt sich ein, diese Versunkenheit, in der Spre­che­rin, die Dame vom Monitor, und Nach­spre­che­rin, also ich, wie mit einer Stim­me sprechen.

Dann ist der Test auch schon vorbei. Das Kind macht mit den Haus­auf­gaben weiter, dieses Mal fällt mir die Dy­na­mik­än­derung neben bzw. schräg hinter mir auf. Am Ende fragt mich der Inter­viewer in Frank­reich, ein Kollege, ob ich noch eine Frage hätte. Erstmal nicht.

Wir kom­men auf das Kind zu spre­chen (das uns nicht ver­steht). Der Interviewer, ein Kollege, lobt es für seine Kon­zen­triert­heit. Er hält es für meine Tochter. Ich kläre das Miss­verständ­nis auf und wir suchen ge­mein­sam noch das französische Wort für "Schlüssel­kind". Das gibt es nicht, sowas ist wie die Ganz­tags­schule jen­seits des Rheins nicht der Rede wert.

Als Entspre­chung für den Drei­silber "Schlüsselkind" kommen wir auf die Um­schrei­bung enfant qui a la clef pour rentrer chez lui en l’absence de ses parents. Das sind 18 Silben. In der Dol­met­scherkabine, wo Zeit rar ist, ein Ding der Un­mög­lichkeit.

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Foto: eigenes Archiv

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