Montag, 23. Januar 2017

Alternativfaktuell

Im 10. Jahr bloggt hier eine Spracharbeiterin (Französisch, aktiv und passiv und Eng­lisch, nur als Ausgangssprache). Nor­ma­ler­wei­se beschreibe ich typische All­tags­mo­men­te (anonymisiert) oder denke über Wörter nach. Wirtschaft, Politik und Kultur sind die Hintergrundmusik.

Ein englischsprachiges Kinderwörterbuch mit durcheinandergebrachtem Wortschatz
Art: Tim O'Brien #alternatefacts
Diese Peter Bichsel-Kurzgeschichte hatte ich hier vor einiger Zeit schon mal erwähnt: In "Ein Tisch ist ein Tisch" fängt ein alter Mann plötzlich an, die Dinge seines Alltags anders zu benennen, als sie bislang geheißen haben. Er tauscht die Wörter wild durcheinander und hat an­fangs Spaß an seiner "Ge­heim­spra­che". Allerdings isoliert ihn diese "eigene" Sprache immer mehr und er zieht sich von der Welt zurück.

Interessant ist zu beobachten, wie Künstler von auf politische Fak­ten­ver­dre­hun­gen eingegangen sind und heu­te eingehen.

Denn ein Neugewählter versucht gerade, die Welt für sich passend zu machen, in­dem er sie anders benennt. Noch schauen alle sehr gut hin. Unsere Awareness ver­dan­ken wir Europäer sicher der Geschichte und auch der Kultur.

Schauen wir zurück und nach England, Lewis Carroll, Humpty Dumpty: "[…] Da hast du Ruhm!" "Ich weiß nicht, was du mit 'Ruhm' meinst", sagte Alice. Humpty Dumpty lächelte verächtlich. "Natürlich nicht – bis ich es dir sage. Ich meinte: Da hast du ein schönes zwin­gen­des Argument!" "Aber 'Ruhm' heißt doch nicht 'schönes zwin­gen­des Argument'", entgegnete Alice. "Wenn ich ein Wort verwende", er­wi­der­te Hump­ty Dumpty ziemlich geringschätzig, "dann bedeutet es genau, was ich es be­deu­ten lasse, und nichts anderes." "Die Frage ist doch", sagte Alice, "ob du den Wor­ten einfach so viele verschiedene Bedeutungen geben kannst". "Die Frage ist", sagte Humpty Dumpty, "wer die Macht hat – und das ist alles. […]" (Im Original: The question is," said Humpty Dumpty, "which is to be master—that's all.")

Ich denke auch an die Beobachtungen Victor Klemperers aus der Nazizeit, die er unter dem Titel "LTI" veröffentlicht hat. Klemperer, ein Philologe und Romanist aus Dresden, beschrieb und analysierte die Sprache des Dritten Reichs, Lingua Tertii Imperii, daher der geheimnisvolle Titel, aufs Genaueste. Das Buch habe ich als Teenager und junge Erwachsene regelmäßig aus dem DDR-Urlaub in mehreren Ex­em­pla­ren in den Westen mitgebracht und verschenkt. Dort war es so gut wie un­be­kannt; im Osten wurde es eifrig gelesen, von vielen auch mit dem Subtext, die DDR-Sprache zu hinterfragen. In meiner Pariser Zeit, ab 1985, war LTI dort üb­ri­gens völlig unbekannt, was mich sehr irritiert hat. (Die Übersetzung von Eli­sa­beth Guillot erschien erst 1996.)

In der DDR gab es für viele Dinge zwei Begriffe, den offiziellen und den in­of­fi­ziel­len. Viele Menschen haben dabei gelernt, zwischen den Wörtern zu hören und zwischen den Zeilen zu lesen. Der Kultur hat das durchaus auch geholfen, und das ist jetzt nicht zynisch gemeint. Solange solche Verhaltensweisen nicht auf eine tum­be, ungebildete Masse treffen, können sie die Intelligenz steigern helfen. Hof­fen wir also das Beste für die USA, wo das Buch "1984" von George Orwell gerade wieder die Bestsellerliste erreicht. Demnächst werden wissenschaftliche For­schungs­er­geb­nis­se unserer Freunde aus den USA in Märchentexten versteckt.

Spannend ist auch, sich dem Sprichwortschatz und den Literaturen anderer Völker zuzuwenden. Auf Chinesisch gibt es das Sprichwort: "Auf einen Hirsch zeigen und ihn ein Pferd nennen." Oder eben Sprichwörter und Texte übersetzen. Ich wundere mich angesichts der Superreichen der Welt, deren Liste mehrheitlich von Menschen aus eben jenem Land angeführt werden, dessen oberster Machismo diesen Blog­post angeregt hat, |dass es auf Englisch keine Entsprechung gibt für die| dass die eng­li­sche Ent­spre­chung der wich­ti­gen Re­dens­art "Das letzte Hemd hat kei­ne Ta­schen", There are no pockets in a shroud, of­fen­bar kei­ne grö­ße­ren Aus­wir­kun­gen hat ... [EDIT: Dank an Ul­rich Schol!]

Sprachwissenschaftler, Journalisten, Übersetzer, Dolmetscher und die be­rühm­te Frau sowie der Mann von der Straße: Wir müssen alle gemeinsam auf die Grund­la­gen unserer Sprachen aufpassen und Menschen für Lügen- und Falsch­nach­rich­ten sensibilisieren. Und wir Sprachmittler müssen weiter helfen, damit die we­sent­li­chen Werke unserer Länder reisen können. Ein weiterer Kul­tur­schock: Auch "Na­than der Weise" wurde erst sehr spät auf Französisch bekannt, ich weiß nicht, ob es offizielle Übersetzungen vor der von François Rey gibt, diese stammt von 1991.

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Illustration: Tim O'Brien

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Es gibt eine englische Entsprechung zu "das letzte Hemd hat keine Taschen": There are no pockets in a shroud.

Ulrich Schol

caro_berlin hat gesagt…

Oh, wunderbar! Vielen Dank ... ich editiere gleich das Posting, so kann ich das ja nicht stehenlassen!

Viele Grüße
Caroline