In deutschen Kultureinrichtungen und in vielen Buchläden werden regelmäßig Autorenlesungen veranstaltet. In Frankreich ist derlei fast unbekannt, dafür ist die Signierstunde dort sehr beliebt. Beim ILB, dem Berliner Internationalen Literaturfestival, erlebe ich die Verbindung aus beidem.
Wir sind im Berliner Kino Babylon am Rosenthaler Platz, einem wunderbaren Haus aus den späten 1920er Jahren, von Hans Poelzig im Stil der Neuen Sachlichkeit erbaut und um die letzte Jahrhundertwende mit viel Liebe zum Detail restauriert. Hier ist heute Philippe Djian angekündigt, der einst wilde und vom literarischen Estabishment wenig anerkannte Schriftsteller, auf den die Buchvorlage für den legendären Film "Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen" von Jean-Jacques Beineix zurückgeht.
Wir Beteiligten sind gehalten, spätestens zwanzig Minuten vor der Lesung am Ort des Geschehens einzutreffen. Doch diesmal warten wir vergebens - wer nicht erscheint, ist Djian. Wir warten zehn Minuten über die Zeit, dann hilft es nichts: Wir müssen anfangen! Erst wird live etwas Musik gespielt, dann folgen einleitende Worte, an dritter Position wäre unser Gast dran. Die Chose mutiert kurzzeitig zum Gespräch im Hause Poelzig über den abwesenden Herrn Djian, da tut sich die Tür auf und mit großem Aplomb erscheint der Erwartete auf der Bühne ... Effekt garantiert. Lesung und Gespräch geraten erwartungsgemäß friedlich und unspektakulär, wenn ich davon einmal absehe, dass ich meine liebe Mühe mit dem Dolmetschen hatte, weil etliches des Gesagten mir nicht immer logisch erschien.
Wie bekannt und beliebt der Autor ist, merke ich spätestens bei der anschließenden Signierstunde. Für jede Form sprachlicher Unterstützung sitze ich neben dem Literaturstar und assistiere. Eine Schlange aus über 100 Menschen bildet sich, am Ende stehen etwas über sechzig Minuten Lesung neunzig Minuten Signier"stunde" gegenüber. Und was die Leute nicht alles dabeihaben! Einer lässt sich sogar sein Lesezeichen signieren, ein anderer den abgelaufenen Reisepass. Etliche halten fast sämtliche auf Deutsch erschienene Ausgaben des Autors unterm Arm sowie Exemplare, die Freunden oder Bekannten gehören, die "heute leider nicht kommen konnten" ... und für alle Fälle hat ein Buchladen auch noch einen Büchertisch aufgebaut, an dem die Wartenden vorbeimüssen.
Am Ende war die anderthalbfache Signierstunde deutlich anstrengender als das Stündchen Lesung plus Gespräch! Die Einladung einiger Fans, ihm das nächtliche Berlin zu zeigen, hat Djian denn auch ausgeschlagen. Auch einstige Wilde brauchen ihre Erholungsphasen!
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