Montag, 1. Juni 2009

Arbeitsbedingungen

Arbeitsbedingungen die erste:

Freitagmorgen um halb neun, der Ansturm auf die BVG durch die Schulkinder ist gerade abgeebbt, betrete ich die U-Bahn, die mich zum Tagungsort bringen soll. Der Wagon ist pickepackevoll - und 80 % der Sitzplätze sind von Rentnern belegt. Müssen die alle gleichzeitig zum Arzt? Gibt es irgendwo etwas umsonst - nur für die Generation 65 plus?

Neben mir stehen auf dem Gang: Ein Anwalt, der versucht, eine Akte durchzublättern, die so dick ist, dass sie nicht auch noch in den edlen Lederkoffer passt; eine Lehrerin, die Notizen durchsieht, zwischen ihren Füßen sind zwei Umwelttaschen mit Schülerheften in bunten Schutzhüllen eingeklemmt; ein Büromensch, der mit dem Kalender in der einen Hand und dem Handy in der anderen Termine macht und bei den Brems- und Beschleunigungsvorgängen sich mit der Schulter an die Haltestange stützt und ich, 80 Seiten Ausdrucke von Redetyposkripten und Power-Point-Präsentationen in der Hand, die ich gerne noch einmal überfliegen würde. An einem Halt steigen Leute aus und ein - und ganz selbstverständlich schiebt sich eine ältere Dame in Richtung des einzigen in unserer Nähe freiwerdenden Platzes, knallt mir dabei ihre Getränkeflaschen ans Schienbein, setzt sich hin.

Nach einigen Stationen, der Anwalt ist längst ausgestiegen, finden die Lehrerin und ich doch noch unsere Sitzplätze. Ich hole meinen Laptop aus der Tasche und lese weiter.

Die alte Dame mit der Getränkeflaschenkeule: "Also früher, da war das anders. Zu meiner Zeit haben wir im Büro gearbeitet oder uns zu Hause vorbereitet!"

Die Lehrerin und ich schauen uns entgeistert an. Da mein Schienbein noch immer juckt (ja, es wird ein blauer Fleck), kann ich mich nicht beherrschen: "Ja, zu Ihrer Zeit, gnädige Frau, da gab es auch noch kein Internet. Die Rede hier, mit dem der Gastgeber in der nächsten Stunde eine Tagung eröffnet, wurde mir gestern Abend um 23:00 Uhr elektronisch zugeschickt!"

Arbeitsbedingungen die zweite:

Wir kommen am Tagungsort an, es ist ein großer Hörsaal einer Hochschule, und erfahren, dass wir keine Dolmetscherkabine haben, sondern eine Flüsteranlage, mit der man normalerweise Werks- und Stadtbesichtigungen begleitet. Und das für eine ganztägige Konferenz ...

Wir richten uns in der hintersten Sitzreihe ein. Uns fehlt Platz zum risikofreien Ausbreiten von Technik und Texten, uns fehlt die Abgeschiedenheit. Bei den ersten Vorträgen müssen wir parallel zum Sprechen immer heftig abwinken, wenn sich Zuspätkommende direkt in die Reihe vor uns setzen wollen. Parallel dazu halten wir den absturzgefährdeten Laptop zu zweit, mit meiner freien Hand "blättere" ich, so ich nicht "abwinke", elektronisch die Seiten weiter.

Arbeitsbedingungen die dritte:

Nach den Vorträgen die Debatte. Die Damen und Herren wenden sich ans Podium, das ist logisch. Aber sie warten selten aufs Mikrofon und sprechen uns abgewandt - und das, was sie sagen, ist oft nicht oder nur kaum verständlich. Währenddessen balanciert das Wasserglas auf dem Tabletttisch - mein Technikberater würde kopfstehen, denn Technik und Speisen und Getränke haben auf ein- und demselben Tisch nichts zu suchen. Aber heute, ja heute ist alles anders als früher und früher war alles besser. Basta!

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