Donnerstag, 20. März 2025

Nur kurz gegenlesen

Meine Haupt­arbeits­sprache beim Dolmet­schen ist Fran­zösisch, denn ich dol­met­sche in beide Rich­tungen (oder aus dem Eng­li­schen ins Fran­zö­si­sche). Deutsch ist meine Mut­ter­sprache und schrift­lich die Ziel­sprache. Die Büro­kol­le­gin über­setzt ins Eng­li­sche. Über­setzen er­fordert viel Wis­sen, Hin­gabe und Ge­duld, denn gu­te Über­set­zun­gen brau­chen ih­re Zeit.

Je­mand von einer Fir­ma ruft an, die Über­set­zungs- und Dol­metsch­dienst­leis­tun­gen ver­kauft. Ich habe heu­te Nach­mit­tag nichts mehr zu tun und da­her Zeit, zu­zu­hören und mich viel­leicht darauf ein­zu­lassen. Die Da­me am Te­le­fon sagt: „Ich habe das schon mal vor­über­setzt, Sie müss­ten nur ein­mal kurz ge­gen­le­sen!“


Sprach­ar­beit ist Team­ar­beit!
Das klingt so, als wür­de eine Über­set­ze­rin mit einer an­de­ren Über­set­ze­rin spre­chen und um ein Kor­rek­torat bit­ten, klas­sisches Über­setzen im Vier-Au­gen-Prin­zip: Zwei Fach­leute küm­mern sich um den ers­ten und den zwei­ten Schritt, am En­de nimmt die Erst­über­set­ze­rin die An­mer­kun­gen ent­ge­gen und baut sie ein. Nichts Neu­es un­ter der Früh­jahrs­son­ne Ber­lins.

Vier-Augen-Prinzip
Ich er­bit­te Ein­blick in die Da­tei um zu se­hen, ob mir die Auf­tei­lung des Hono­rars passt: 20 Cent pro Wort für die Erst­über­setzung waren es das letz­te Mal, fünf fürs Korrek­torat sol­len es die­ses Mal sein.

Ein­schub: In Deutsch­land ist das Ab­rech­nen nach Wort weni­ger üblich und nicht so prak­tisch, denn die deut­sche Spra­che neigt ja zu sehr lan­gen Wörtern, aber mit­un­ter kom­men Texte aus Frank­reich, dem Land mit den Ein-bis-zwei-Buch­sta­ben-Wör­tern.

Um­rech­nen von Wort­preis zu Zei­len­preis
Die Über­set­zer­norm­zei­le (ÜNZ) ist genau 55 An­schläge lang, das stammt noch aus den al­ten Zeiten des Blei­sat­zes und ist ein ge­mit­telter Durch­schnitts­wert. Ich rech­ne mit ei­nem zwei­ten Durch­schnitt, näm­lich der Wort­länge eines Wor­tes, im Deut­schen ist diese Zahl 6,8 Buch­staben, im Fran­zö­sischen 5,4. Da­für ist fol­gen­de For­mel prak­tisch: 0,24x55/6,8=2,02 Euro. Damit kä­me ich auf den Preis von 2,02 Euro bei der Ab­rech­nung nach Norm­zeile, und zwar für ei­nen leich­ten bis mit­tel­schwe­ren Text. Ein­schub­ende.

Ein sat­tes Plopp kün­digt die Mail im elek­tro­ni­schen Brief­kasten an. Ich öffne die Da­tei. Was ich se­he, ist ein krea­ti­ver Mar­ke­ting­text, die deut­sche Fas­sung klingt schwer nach KI. Es dauert nicht lan­ge, bis ich seuf­ze. Wer bei neu­er Tech­nik Wun­der auf Knopf­druck er­wartet, wird mal wie­der ent­täuscht. Die KI hat nicht „vor­über­setzt“, sie hat Wör­ter an­ein­ander­ge­reiht, oft Ge­gen­satz­paare zur Aus­wahl. Die KI kann keine Kom­mu­ni­kation, sie si­mu­liert Kom­mu­ni­ka­tion. Und es klingt so ele­gant wie ein kaput­tes Navi: „In 200 Metern bie­gen Sie links rechts ge­ra­de­aus ab.“ Und natür­lich ha­ben sich wie­der­holt false friends in den Text ge­schli­chen: „Un­se­re Fir­ma ist enga­giert im Be­reich ...“ ... Be­trug, bin ich ge­neigt zu er­gänzen.

Hier: nur zwei Augen, denn die KI ist blind
Ich bit­te die Da­me um ein Te­le­fo­nat. Ich fra­ge nach. Sie druckst am Te­le­fon he­rum und gibt am En­de zu: Ja, die KI ha­be die ers­te Fas­sung er­stellt, aber das sei ei­ne KI, die Zu­griff auf Da­ten­bänke und frü­here Tex­te der Fir­ma ha­be, das sei al­les „sehr, sehr or­dent­lich!“ Und wei­ter, dass die fünf Cent ei­gent­lich über­be­zahlt seien, „so viel Geld nur fürs Le­sen ...!“, ent­fährt es der Da­me noch.
 
Meine Ant­wort ist, dass sie nie­man­den zum „Gegen­lesen“ brau­che, son­dern für eine Ret­tungs­aktion. Bis auf zwei Sät­ze ist al­les zu kor­ri­gieren, um­zu­stellen, neu zu über­setzen.

Ich rech­ne laut noch ein­mal nach und kom­me auf min­des­tens zwei Stun­den für die Ar­beit. Ich könn­te pro Stun­de ab­rech­nen oder 20 Cent pro Wort für die Neu­über­setzung. Doch die Da­me fin­det den Vor­schlag nicht gut. Ich wür­de über­treiben, meint sie. Dan­ke, dann ma­che sie das eben rasch selbst. In­zwi­schen ist Fei­er­abend, ich ver­ab­schie­de mich aus dem Bü­ro. Abends um neun, so wer­de ich es am Frei­tag­mor­gen sehen, al­so nach vier (!) Stun­den, kommt der Text er­neut bei mir an, recht or­dent­lich über­setzt, mit der Bit­te, nach den be­kann­ten Kon­di­tio­nen kor­rek­tur­lesen zu wol­len.

Siehs­te, geht doch. Lei­der nicht im­mer.
Ich freue mich über die Ein­sicht der Da­me, die an die­sem Tag et­was ler­nen durf­te. Ich fürch­te al­ler­dings, dass sie es schon vor­her ge­wusst hat. Es ist lei­der ein weit­ver­brei­te­tes Ge­schäfts­mo­dell, den Be­rufs­ethos von Frei­be­ruf­ler:in­nen aus­zu­beu­ten.

Gerne be­ar­beite ich Tex­te von Men­schen, die wis­sen, dass Spra­che mehr ist als ein Algo­rith­mus vol­ler Wort­bau­steine, der dann al­les so aus­wirft, dass es der Wahr­schein­lich­keits­rech­nung ent­spricht.

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Bild:
Fotoar­chiv Elias Lossow

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