Meine Hauptarbeitssprache beim Dolmetschen ist Französisch, denn ich dolmetsche in beide Richtungen (oder aus dem Englischen ins Französische). Deutsch ist meine Muttersprache und schriftlich die Zielsprache. Die Bürokollegin übersetzt ins Englische. Übersetzen erfordert viel Wissen, Hingabe und Geduld, denn gute Übersetzungen brauchen ihre Zeit.
Jemand von einer Firma ruft an, die Übersetzungs- und Dolmetschdienstleistungen verkauft. Ich habe heute Nachmittag nichts mehr zu tun und daher Zeit, zuzuhören und mich vielleicht darauf
einzulassen. Die Dame am Telefon sagt: „Ich habe das schon mal
vorübersetzt, Sie müssten nur einmal kurz gegenlesen!“
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Spracharbeit ist Teamarbeit! |
Einschub: In Deutschland ist das Abrechnen nach Wort weniger üblich und nicht so praktisch, denn die deutsche Sprache neigt ja zu sehr langen Wörtern, aber mitunter kommen Texte aus Frankreich, dem Land mit den Ein-bis-zwei-Buchstaben-Wörtern.
Ein sattes Plopp kündigt die Mail im elektronischen Briefkasten an. Ich öffne die Datei. Was ich sehe, ist ein kreativer Marketingtext, die deutsche Fassung klingt schwer nach KI. Es dauert nicht lange, bis ich seufze. Wer bei neuer Technik Wunder auf Knopfdruck erwartet, wird mal wieder enttäuscht. Die KI hat nicht „vorübersetzt“, sie hat Wörter aneinandergereiht, oft Gegensatzpaare zur Auswahl. Die KI kann keine Kommunikation, sie simuliert Kommunikation. Und es klingt so elegant wie ein kaputtes Navi: „In 200 Metern biegen Sie links rechts geradeaus ab.“ Und natürlich haben sich wiederholt false friends in den Text geschlichen: „Unsere Firma ist engagiert im Bereich ...“ ... Betrug, bin ich geneigt zu ergänzen.
Ich rechne laut noch einmal nach und komme auf mindestens zwei Stunden für die Arbeit. Ich könnte pro Stunde abrechnen oder 20 Cent pro Wort für die Neuübersetzung. Doch die Dame findet den Vorschlag nicht gut. Ich würde übertreiben, meint sie. Danke, dann mache sie das eben rasch selbst. Inzwischen ist Feierabend, ich verabschiede mich aus dem Büro. Abends um neun, so werde ich es am Freitagmorgen sehen, also nach vier (!) Stunden, kommt der Text erneut bei mir an, recht ordentlich übersetzt, mit der Bitte, nach den bekannten Konditionen korrekturlesen zu wollen.
Gerne bearbeite ich Texte von Menschen, die wissen, dass Sprache mehr ist als ein Algorithmus voller Wortbausteine, der dann alles so auswirft, dass es der Wahrscheinlichkeitsrechnung entspricht.
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Bild: Fotoarchiv Elias Lossow
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