Donnerstag, 16. Januar 2020

Piff-paff-bumm

Was und wie Kon­fe­renz­dol­metscher und Übersetzer (und Dolmetsche­rin­nen und Über­set­ze­rin­nen) arbeiten, darüber berichte ich hier im 13. Jahr. Im Winter fin­den kaum Konferenzen statt. Derzeit erhole ich mich von einer Grippe und denke übers Leben nach.

Krank zu sein macht dankbar, bescheiden und auf­merk­sam für die Dinge um uns he­rum. "Als hättest du derlei nötig!", wider­spricht mir mein Inneres. Ich lese die Zei­tung und be­kom­me schlechte Laune. Warum muss ich immer an Albert Ein­stein denken, der der­mal­einst sagte: "Die reinste Form des Wahnsinns ist es, al­les beim Alten zu las­sen und gleich­zeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert."

Privates Silvesterfeuerwerk
Die­ser Diagnose zufolge weiß ich, was ich der­zeit von Politik und weiten Kreisen der Wirt­schaft halten darf. Selbst dann, wenn ver­meint­lich Neues gedacht wird, verläuft es in alten Bah­nen. Wenigstens hören wir in­zwi­schen immer lauter Kritik; sie wird auch von den Medien wie­der­ge­ge­ben.

Nach­trag zu Silvester (was ich zum Teil ver­schlief. Da aber in Kreuz­berg vom 30.12. gegen Mittag bis in die ers­ten Tage des neu­en Jah­res dau­er­ge­knallt wird, konnte ich es nicht ver­pas­sen): Schätzun­­gen zufolge sollen die Böller, mit denen das neue Jahr begrüßt wurde, allein in Deutsch­land 133 Mil­lio­nen Euro gekostet haben. Was für eine  Geld­ver­nich­tung!

Menschen mit Atem­wegs­er­kran­kungen wie ich haben sich zudem über die Erhöhung des Fein­staubs gefreut. Dem Bundes­umweltamt zufolge wurden zum Jahres­wechsel 16 Prozent der Menge in die Luft geblasen, die der Straßen­verkehr pro Jahr frei­setzt. Doch nicht genug. Freunde von mir, die den Krieg in Aleppo knapp überlebt haben, Teile ihrer Fa­milie kamen darin um, verlassen in diesen Tagen nicht das Haus. Die Kinder sind dann wie verstört. Ja, sie wissen sehr genau, was die Knal­lerei hier bedeutet. Aber die Erin­ne­rungen sitzen tief.

Ich kann sie verstehen. Auf manchen Berliner Straßen wirkt Silvester fast wie ein (vergleichsweise gemä­ßigter) Bürger­krieg. Mein Schafpelz­mantel, der mich viele Winter schon zuverlässig er­freut, das Geschenk einer Freun­din, davor hatte die Jacke sie gewärmt, hat an der Unterseite des linken Ärmels einen Ster­nen­nebel aus­ge­brann­ter Stellen. Da haben vor einigen Jahren einige Idioten auf dem Geh­weg Knaller auf mich geworfen, ich hob den Arm zum Schutz, meine Haare fin­gen Feuer, mein Be­glei­ter hat hel­den­haft sei­nen Schal geopfert.

Seitdem vermeide ich zum Jahres­wechsel auch in gesun­dem Zu­stand den Gang nach drau­ßen. Lässt es sich partout nicht vermeiden, trage ich Ohrstöp­sel. Denn die Gefahren sind groß. Ein Bekannter trug in einer Silvester­nacht einen Hör­scha­den davon, weil Idioten in der U-Bahn mit Böllern um sich warfen. Er war frü­her Or­chester­mu­si­ker und ist heute Musiklehrer. (Auch bei uns Dolmetschern zählt das Gehör zum Berufs­kapital.)
 
Krankenhäuser vermelden in Zusammenhang mit dem Feuerwerk schwerste Ver­let­zungen, Verstüm­me­lungen und Tote. 2019/20 starben den Medien zufolge vier Kin­der unter zehn Jahren. Solche Minis können noch gar keine Gefah­ren ab­schät­zen, weshalb sie ja sogar auf dem Geh­weg fahr­rad­fah­ren dür­fen. Aber die Eltern lassen sie mit Feuerwerkskörpern "spielen" bzw. diese sind auch für Lüt­te be­schaf­fbar ...
 
Dann ist da noch das liebe Vieh: Haus- und Wildtiere leiden in der Nacht zu Neu­jahr Todes­ängste oder sterben in Feuers­brünsten wie die Insassen des Affenhauses im Krefelder Zoo. Das alles ist ebenso vermeid­bar wie die Tot­ge­burten in Ställen von Tierzüchtern. Einer befreun­de­ten Tier­ärztin zufolge gibt das um Silvester ein Drittel mehr Fälle als sonst.

Böllerdreck, in Berlin bis in den Februar vorzufinden
Zum Glück ist Rau­chen in öf­fent­li­chen, ge­schlos­se­nen Räumen heute verboten. Vor über 20 Jahren, zu Be­ginn mei­nes 1. Berufs­le­bens, wur­de in Ge­mein­schafts­büros noch ge­raucht.
Mit mei­nen empfind­li­chen Lun­gen war ich des­halb oft krank. Das hat mir da­mals die Karriere im Sender erschwert, denn der/die Abwe­sen­de hat nie­mals recht.

Den letzten Satz habe ich jetzt gröblich dem Französischen entlehnt, l'absent(e) a toujours tort, "der/die Abwesende ist immer im Unrecht", so das Sprichwort. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, hätte es diese doofe Qualmerei nicht gegeben!

Um nicht miss­ver­stan­den zu werden: Gegen ein zentrales Sil­ves­ter­feu­er­werk habe ich wenig einzuwenden. Ich bin mir aber sicher, dass wir uns in 15 Jahren über die private Knal­lerei von heute im Nach­hin­ein ge­na­uso wundern werden wie über die Rau­che­rei in der Bahn, in Restau­rants, Flugzeugen, Büros und Lehrerzimmern von vor 20, 30 Jahren.

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Fotos: C.E. (Archiv)

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