Samstag, 23. Januar 2010

Labyrinth

Es gibt Sätze, die sind so dicht und verwinkelt, dass es sich anfühlt wie im Labyrinth auf der Suche nach dem Ausgang. Und dann gibt es bauliche Situationen, deren Ziel es nicht ist, für Irritationen zu sorgen, die sich aber als unsichere Labyrinthe erweisen. Und wo sonst Labyrinthe nur für den schönen Schauder und das Gefühl sorgen sollen, es könne sein, dass man sich verlaufen habe, sind sie her real: Sie bedrohen unsere Arbeit.

Neulich dolmetschte Stefanie in einem modernen Hotel. Sie hatte gerade die Verdolmetschung übernommen, als der Kollege kurz mal auf die Toilette ging. Das Hotel war groß, mit vielen Gängen, dicht gewebten Teppichböden, die den Schrittschall auffangen, schnieken Aufzügen, verspiegelten und blumengeschmückten Wartebereichen vor den Aufzügen und einigem Andrang. Dafür gab es in der Nähe der Dolmetscherkabinen keine Toilette. Auf dem Hinweg ging der Dolmetschkollege einen langen Gang hinunter, wartete auf den Aufzug, fuhr ein Stockwerk hoch oder runter und ging wieder in die gleiche Richtung, aus der er gekommen war, in Richtung Örtchen seiner momentanen Sehnsüchte.

Als das erledigt war, wollte er schnell zurück in die Kabine und entdeckte gegenüber der Toilette an der Tür ein kleines Zeichen, das ihm unmissverständlich klarmachte, dass dahinter eine Treppe liegen müsse. Da er ja wusste, sich in großer Nähe zu den Kabinen zu befinden, eben nur ein Stockwerk entfernt, öffnete er diese Tür, sah die reichlich schmucklose Treppe aus Sichtbeton, und wusste: Der Weg stimmt. Der Weg hat auch gestimmt, nur war er nicht geplant, dass ein Hotelgast ihn nehmen würde. Als er im richtigen Stockwerk angelangt war und die Verbindungstür zum Gang öffnen wollte, der direkt zur Dolmetscherkabine führte, merkte er erst: Die Tür ließ sich vom Treppenhaus aus nicht öffnen. Nach einer kurzen Schrecksekunde besann sich unser guter Mann seiner sportlichen Beine und der Tatsache, dass er ja in einem anderen Stockwerk ins Treppenhaus hereingekommen war. Er ging also seinen Weg zurück, doch dort: Enttäuschung! Auch diese Tür ließ sich nur vom Gang aus öffnen, wie übrigens alle anderen Türen auch, die er nacheinander abklapperte im modernen, mehrgeschossigen Hotelneubau.

Dann probierte er es mit Rufen. Aber die Türen waren offenbar nicht nur Türen eines Fluchtwegs, sie waren auch Feuersperren und deshalb sehr, sehr dick. Selbst der Hall, den die nackten Wände und Stufen des Sichtbetontreppenhauses beisteuerten, half nichts.

Darüber verging eine Stunde. Am Ende verfiel ein anderer Kongressteilnehmer auf die Idee mit der Abkürzung und befreite unseren Dolmetscher aus der Falle. Seine Kollegin Stefanie in ihrer Kabine war indes auf hundertachtzig. Dolmetschen ist Schwerstarbeit, und regelmäßiger Wechsel der Sprecher ist eine Grundvoraussetzung, diese merkwürdige Gehirnakrobatik überhaupt leisten zu können ... sie wähnte unseren armen Mann bereits sonstwo und fing an, seine Zuverlässigkeit infrage zu stellen.

Derlei Schnacks erzählen wir uns in der Mittagspause. Wir stehen in einem Foyer am Rande der Internationalen Grünen Woche. Ein langjähriger Kunde einer befreundeten Agentur, der einst nur mehrere Dutzend Teilnehmer zusammenbrachte, bewegt nun mehrere tausend Menschen, daher mietete er den größten Raum an, den das Berliner Kongresszentrum zu bieten hat. Und wir haben unseren ersten Berufskontakt mit diesem unfreundlichen Koloss, der aussieht, als habe ein außerirdischer Riese am Rand der AVUS seinen Bauklotz fallen lassen.

Dieser Betonklotz ist allein schon baulich für uns Dolmetscher eine Herausforderung. Die Kabinen hängen oben unter der Zimmerdecke und wurden zu einer Zeit geplant, als noch niemand an Energieprobleme oder die Möglichkeit der Erfindung von PowerPointPräsentationen dachte, denn die Decke ziert ein Buckelwalhuckel, der sich in der Sichtachse ins Innere wölbt, so dass dort, wo auf dem Bühnenhintergrund die Bilder auftreffen, stets das obere Drittel abgeschnitten ist. So wissen wir in der Dolmetscherkabine stets mit großer Sicherheit, wie groß die Redner sind, deren Konterfei abgefilmt und an die Wand projiziert wird: So, wie das Rednerpult jetzt steht, sehen wir alle bis 1,75 cm inklusive Scheitel, beim 1,85-cm-Mann sehen wir gerade noch das Mundbild, was beim Dolmetschen ja ganz hilfreich ist.

Das Schlimmste am ICC aber sind die labyrinthischen Gänge. Morgens müssen wir eine halbe Stunde vor der üblichen Zeit kommen, damit wir uns nach einem Verantwortlichen durchfragen können, der uns nach oben geleitet. Und der Weg geht ungefähr so: Von der Hauptebene rechts mit der Rolltreppe hoch, dort in den Fahrstuhl an der rechten Seitenwand, dort in den vierten (?) Stock, dann die Tür nehmen, die neben der zum Bühneneingang liegt, durch einen Flur Richtung Fenstergang, dort von vier möglichen Türen jene nehmen, die am langgestreckten Fenster neben dem Mauervorsprung liegt, wieder durch ein Mini-Treppenhaus, da die Tür nehmen, auf der Zettel mit dem Wort "Dolmetscher" hängt, dann eine halbe Umdrehung auf der schmalen Treppe, dann durch eine Feuertür in eine Art Treppenhaus, die um einen Metallkäfig herumführt, dahinter liegen sämtliche Sicherungen des ICC in riesigen Metallschränken (oder was nur so aussieht), dann durch eine Tür am Ende des Ganges, die in einen Flur mündet, an dessen Ende eine kleine Treppe liegt und eine weitere Tür, die dann zum Gang führt, an dem die Dolmetscherkabinen liegen. Und der Weg zu den Toiletten geht so: Aus der Kabine in die andere Richtung bis zum Ende des Ganges, wieder eine Feuertür, dann teilt sich der Weg, links und rechts gehen jeweils zehn Treppenstufen ...

Ach, ich spar' mir den Rest. Der Dolmetscher im Hotelneubau, der auf dem Fluchtweg ausharren musste, musste nur den Gang rauf oder runter. Unser Weg zum Klo ist so, dass wir Scherze machen über Ariadnefäden, die abzurollen wären um sicherzustellen, dass wir wieder zurückfinden. Oder Brosamen ausstreuen. Im ICC gibt es doch keine Vögel, oder?

Ich halte es für höchstwahrscheinlich, dass sich irgendwo in einer Nische eine kleine Vogelpopulation angesiedelt hat, die nur von den Krümeln lebt, die von den Dolmetschern verstreut werden ... Grausiger Gedanke. Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir erst durch den langjährigen Kunden unserer Partneragentur zum ersten Mal hier herkamen, um zu dolmetschen ..._________________________________________
P.S.: Ganz im Ernst: Die Stadt Berlin erwägt, das ICC abzureißen und durch einen Neubau zu ersetzen. Ich plädiere dafür. Ich nehme an, die Energiebilanz ist niederschmetternd, sicher ist aber, dass im Katastrophenfall aus den Kabinen kein Dolmetscher lebend rauskommt. Und bitte, liebe Architektinnen und Architekten, fragt uns beim nächsten Neubau mit Dolmetscherkabinen, wir wissen, welche Pannen noch zu vermeiden sind.

1 Kommentar:

Dieter hat gesagt…

Lustige Beschreibung dieses Gebäudes, das ich aber eigentlich ganz schön finde - oder schauerlich schön ... zumindest ist es eine der architektonischen Sonderbarkeiten aus dem Westberlin der 70-er Jahre.

Wenn ich früher über den Transit nach Berlin reinfuhr, hab ich mich immer gefreut über das lichte Gebäude: ein ganzes Haus aus Aluminium zu bauen und oben Bäume drauf, das hat was!

Ansonsten ist es fürchterlich unpraktisch. Die Auditorien sind um ein Viertel kleiner als gewöhnlich, als mittelgroßer Mensch stößt man an der Rücklehne des Vordersitzes an und wer mal auf die Toilette muss, nötigt alle anderen zum Aufstehen.

Ich hab da auch mal gedreht, da gibt's kaum ein Ort, an dem man ein Stativ aufstellen kann ...