Die Franzosen haben das schöne Wort déformation professionnelle erfunden. Es bezeichnet einen Tick oder eine Verschiebung der Sichtweise, die mit der Berufsübung zusammenhängt. Das Wort wurde nach dem Muster der formation professionnelle, der Berufsbildung, gestrickt. Berufsdeformierung klingt auf Deutsch nicht so gut, also gehe ich auch zurück zur beruflichen Bildung und habe mir so meine "Berufs(ver)bildung" gebastelt.
Viele Dolmetscher kennen diese Berufs(ver)bildung: Sie hören zu gut. Die Sache ist einfach erklärt: Wer darauf trainiert ist, auch in Dolmetschpausen in der Kabine stets mit einem Ohr dabeizusein, hat auch sonst Mühen mit dem Abschalten. In der Kabine hören wir deshalb immer (mindestens ein wenig) mit, weil wir der Kollegin/dem Kollegen im Zweifelsfall mit Zahlen und Fachtermini beispringen, die wir (bei W-Lan-fähigen Arbeitsplätzen sogar übers Netz) rasch raussuchen - und weil wir selbst wenig später wieder übernehmen, also den Kontext kennen müssen.
Im Alltag führte das bei mir zu allgemeiner Lärmempfindlichkeit. Und dazu, dass ich mal in einem Schlafzimmer über einem Kartenspielerclub solche Schlafschwierigkeiten bekam, dass ich um meine Gesundheit fürchtete; dass ich, wenn ich bei Freunden ankomme, bei denen die Türen offenstehen und in jedem Zimmer ein (anderes) Radio oder ein CD-Player läuft, rumgehe und verhandle (wenn jemand da ist) oder ausmache (wenn keiner da ist); dass ich mir meine jetzige Wohnung nach dem soundscape ausgesucht habe, der akustischen Landschaft, die sie umgibt.
Etliches bekomme ich dennoch nicht geregelt. Einer meiner Hauptfeinde: die gemeine Stubenfliege. Sie weckt mich erbarmungslos beim leisesten Anflug. Ihr hohes Pfeifen löst in mir den Jagdtrieb aus, ich werde zur Kammerjägerin. In der halben Stunde danach hat ihr Sound in mir einen derart starken "Abdruck" hinterlassen, dass ich noch immer das Gefühl habe, selbst die Landepiste eines kleinen Fliegengeschwaders zu sein.
Für Außenstehende sieht meine Reaktion vielleicht wie ein Tick aus, wie Überreagieren. Als langjährige Reiterin weiß ich indes, wo sich Fliegen so in ihrer Freizeit herumtreiben - und deren Hinterlassenschaften sind auch nicht sehr sympathisch. Fensterputzen ist mir selbst ein Gram, da ergeht's mir kaum besser als Morgensterns Zäzilie.
Für alle anderen Eventualitäten gibt's In-Ear-Gehörschutz vom Hörgeräteakustiker, der filtert 'intelligent', verhindert Druckgefühle im Kopf und schützt bei beruflichen Reisen an laute Orte (WM-Eröffnung, Feuerwerk zum 14. Juli etc.) vor Hörschäden.
Nicht gelöst ist das Thema "laute Restaurants und Kneipen". Die meisten Gaststätten haben schlechte Akustiken, das wird durch klares Design oft verstärkt, wenn sich die Gastronomen niemanden für die Innenraumakustik holen. Da ich seit Kindertagen mein Gehör schütze, kann es passieren, dass ich im Restaurant, zu mehreren besucht, wie eine Langweilerin wirke, denn ich höre im Zweifelsfall den Milchschäumer von der Bar genauso gut wie den Menschen, der zwei Plätze neben mir sitzt. Und das strengt an.
2 Kommentare:
Es ist interessant, dass ein Beruf den Menschen über Jahre hinweg prägt und sich auf das Leben stark auswirkt (hier z.B. beim Aussuchen der passenden Wohnung). Doch vielen Menschen fällt die erhöhte Empfindlichkeit nicht auf oder erscheint unverständlich, weil sie nie mit dieser Berufs(ver)bildung konfrontiert werden - es ist ja nicht so, dass jeder ein Dolmetscher ist und das nachvollziehen kann.
Ja, liebe Nika, vermutlich denken aber die meisten Musiker so wie ich: Wir legen allgemein viel zu wenig wert auf gute Akustiken. Ob am Arbeitsplatz, im Wohnumfeld, an Freizeitstätten, es wird allenfalls geschaut, ob nicht Umstände eintreten, die die Menschen schwer schädigen ... (und auch da halte ich die jetzige Situation für halbherzig, ich denke da nur an Feuerwehrsirenen, die so eingestellt sind, dass sie Autofahrer hören, die sehr laut Musik hören und bei deren Festlegung Fußgänger "augenscheinlich" komplett vergessen worden sind. So riskieren Passanten Hörschäden und kleine Kinder können traumatisiert werden, wenn neben ihnen an der Ampel plötzlich eine Feuerwehr ihr Signal anwirft).
Aber ich denke weiter: Die alltägliche Schädigung durch mittellaute Dauerbeschallung ist heute zu oft noch nicht im Focus der Aufmerksamkeit - und es wird lange dauern, bis wir wirklich fördernde, gute Akustiken als solche beschreiben, benennen und fordern. Ich denke da zum Beispiel an Schulen, aber nicht nur.
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