Freitag, 14. Januar 2022

­COVIDiary (462)

Wie wir Sprach­ar­bei­ter:in­nen ar­beiten, genauer Konferenz­dol­met­scher und Über­set­zer, beschreibe ich hier. Wir in­ter­na­tio­nal tä­ti­gen Simultandol­met­sche­rin­nen rei­sen nor­ma­ler­wei­se viel. Durch Co­ro­na ar­beiten wir indes immer öf­ter online.

Zeichnen als Entspan­nungs­technik
 

 

er Früh­ling naht in Riesen­schritten! Es wird mor­gens jetzt deutlich früher grau als noch vor ei­nem Monat! Und die Abend­run­de müs­sen wir nicht mehr in der Mitte des Nach­mit­tags gehen, sie rutscht lang­sam in Rich­tung späterer Nach­mit­tag.

Arbeit die­se Woche: Elf Stun­den Dol­met­schen für ei­nen Stamm­kun­den und Über­set­zungs­ar­beit, Privat­kor­res­pon­denz und Film­ex­po­sé für eine Ber­li­na­le­teil­nah­me.

In Pandemie­zeiten dol­metsche ich über­wiegend kon­sekutiv. Den Kun­den, ein trina­tionales Kon­sor­tium, be­gleite ich jetzt im vier­ten Jahr, bin also über viele Ab­läufe auf dem Lau­fen­den. Daher be­rech­ne ich keine Er­schwer­nis­zu­lage wegen der stark er­mü­den­den On­line­ar­beit.

Mein POV: Hinter der Besprechungsraumsoftware ist die Tischvorlage

Positiv ist auch, dass das Team gut auf mich auf­passt. Ich arbeite hier al­lein (wie bei Kon­se­kutiv­dol­metschen üb­lich). Das Team gönnt mir Pau­sen, es wieder­holt ge­dul­dig, falls was nicht durch­kam oder klar war, und es gibt bei etlichen Sit­zungen auch einen bis zwei Mehr-oder-weniger-Zwei­spra­chi­ge im vir­tu­el­len Kon­­fe­­renz­saal, die mir in Zweifels­fäl­len weiterhelfen, Vo­ka­beln zuschieben (was sonst die Auf­ga­be ei­ner Kol­legin wäre), Dinge klar reformulieren. Denn einige dieser Sitzungen wa­ren Ak­tio­närs­ver­samm­lun­gen, da muss ich mich noch weiter ein­ler­nen.

Sonst habe ich ver­stärkt dem Sofa ge­frönt, mich aus­geruht, ge­le­sen oder Hör­bü­chern ge­lauscht, denn solche Hirn­höchst­leis­tun­gen sind nur mit aus­rei­chend Aus­gleich mög­lich.

Ach, wie schön es doch ist, ein gemütliches Zu­hau­se zu haben.

Noch eine Pixelskizze
Beim Gang zum Augenarzt sehe ich dann am Bahn­­steig den Augen­win­keln ein Foto, das ich rasch als Ge­dan­ken­stütze knipse: "Hei­mat neu ent­decken", die Auf­schrift der Plastik­tü­ten dieses Ob­dach­losen, war einmal der Slogan einer Su­per­markt­kette mit rotem K. Unsere Ge­gend wurde in den letzten 15 Jahren turbogen­tri­fi­ziert, in kras­sem Ge­gen­satz dazu steht der Abstieg der nächstgelegenen U-Bahn-Halte­stelle von "ein wenig ver­lot­tert" zu "furcht­bar ab­sto­ßend". (Seit Jahren gehe ich nor­ma­ler­wei­se zu Fuß zum Kottbusser Tor, aber heute fällt Regen.)
"Unser" "Haus­bahn­hof" Schön­lein­straße ist be­rühmt-be­rüch­tigt.

Das Wort "Geis­ter­bahn­hof" war mal an­ders be­legt


Nahezu die ganze Stadt kennt ihn als Auf­ent­halts­ort von Dro­gen­ab­hän­gi­gen und Ob­dach­lo­sen. Die Hilf­lo­sig­keit von Bezirk und BVG spricht Bän­de; ge­ra­de Letzte­re reißt lieber Wit­ze als sich selbst am Rie­men. Links das Bei­spiel der "Sym­pa­thie­kam­pag­ne" vom letzten Herbst.

Seit Jah­ren werden im­mer wie­der Anläufe unternommen, den Bahnhof zu re­no­vie­ren, aber nichts wird wirklich verbessert. Mit Jahresbeginn wurde er fast ein wenig illegal, denn ab 2022 sollte der öf­fent­li­che Personen­nah­ver­kehr (ÖPNV) in Deutsch­land eigentlich durch­ge­hend bar­rie­re­frei sein, so zu­min­dest eine UN-Kon­ven­tion zur Stärkung der Rechte Behin­der­ter, die auch von Deutsch­land ra­ti­fi­ziert wurde. Und ge­nau das ist er natür­lich nicht, son­dern auch für Fuß­gän­ger ei­ne Zu­mu­tung.

Schon vor Jahren verglich ein Tages­spie­gel­leser diesen Bahn­hof mit "Hie­ro­ny­mus Boschs Ge­mäl­de von der Hölle". Und ja, der Urheber dieses Zitats, Jef­fer­son Chase, übrigens ein Übersetzerkollege, hat recht. Einmal bin ich beim Rein­kom­men und et­was zu schar­fem Um-die-Ecke-Bie­gen auf hal­ber Höhe fast in ein Jun­kie­la­ger hin­ein­ge­stol­pert, das in einer Ecke auf­ge­schlagen wurde: Pappe und Ta­schen am Boden, einer bin­det sich den Arm ab, ein ande­rer er­hitzt etwas auf ei­nem Löf­fel, den er über das Feu­er eines Feuer­zeugs hält, zieht es auf ei­ne Sprit­ze. Seit­her gehe ich dort in gro­ßen Bögen.

Der Geruch in die­ser Unter­welt war schon im­mer infernal. Die FFP2-Mas­ken helfen ein we­nig. Ich kenne Fa­mi­lien, die des­halb den Kiez meiden.

Ich finde es un­ver­ant­wort­lich von der Politik, dass sie in Sachen Ob­dach­lose nicht schon seit Jahrzehnten aktiv wird. Es gibt ein Men­schen­recht auf Woh­nen, und die ak­tuel­le La­ge kostet unter dem Strich doppelt so viel Geld (durch Sozial­ar­bei­ter, Not­un­ter­künf­te, me­di­zi­ni­sche Kosten, Polizei, Knäste), als den Ob­dach­lo­sen Woh­nungen zu ge­ben. Ich verweise (erneut) auf das sehr er­folg­rei­che Pr­ogramm "Hou­sing first", wo, wie der Name be­sagt, mit dem Woh­nen an­ge­fan­gen wird. Und durch gute Be­glei­tung wer­den Ex­is­ten­zen sta­bi­li­siert, die Aus­fall­quote ist gering.

Bei einer der der Ak­tio­närs­ver­samm­lun­gen dieser Woche war auch die Rede von ihrer Betreuung. Einer der Deut­schen freute sich, mit Clo­chards ein fran­zö­sisches Wort zu kennen. Ich musste ihn ent­täu­schen. Der Be­griff gilt inzwischen als ro­man­ti­sie­rend, in Frankreich ist von SDF die Rede, sans do­mi­cile fixe, ohne fes­ten Wohn­sitz. (Und wir sind inzwischen alle so ver­traut mit­ein­an­der, dass ich als Dol­met­sche­rin sowas kurz bei­steu­ern darf.)

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Illustrationen:
BVG und C.E.
POV:
Point of view (Blickrichtung der Person)

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