Donnerstag, 22. Juni 2017

Der Eisberg

Ob geplant oder zufällig: Sie sind mit­ten in ein Ar­beits­ta­ge­buch hinein­ge­ra­ten, in dem sich al­les um Spra­che, Dol­met­schen, Über­setzen und Kult­uren dreht. Als frei­be­ruf­li­che Sprach­mitt­lerin ar­bei­te ich in Pa­ris, Berlin, Marseille, Heidelberg und dort, wo man mich braucht.

Mit Eisbergen kann man sich vertun. Vom Wasser aus können manche wie Eis­schol­len mit Spitze drauf wirken. Das Zentral­bild des Scheiterns unserer in­dus­triel­len Ge­sell­schaf­ten ist untrenn­bar mit einem Eisberg ver­bunden: die Titanic. Während ich den Namen des Schif­fes schreibe, kom­men die Buchstaben ins Rut­schen, merke ich, dass ich einen untergehenden Schriftzug sehe wie auf dem Cover der Satire­zeit­schrift und nichts anderes. Passt gut zur Unter­titel­theorie: Dass nämlich die Buch­staben, die das Wort "Haus" bilden, als Schriftbild das Gebäude evozieren, so jedenfalls Unter­su­chun­gen darüber, welche Hirnpartien beim SEHEN (und nicht beim Lesen) von Unter­titeln in den Ge­hir­nen versierter Filmseher feuern.

Dazu passt die Beobachtung, dass bei Vertippern das Gehirn automatisch kor­ri­giert, sofern Anfangs- und Endbuchstaben stimmen. Deise Thoerie bewiest deiser kielne Vesruch durchuas gnaz deultich.

Ein Wort, eine Visuali­sierung, ein ganzes Hinter­land an Verknüpfungen, An­spie­lungen und Fakten, so funktionieren menschliche Köpfe, genau das werden Ma­schi­nen nicht übernehmen können, das ist nicht in Einsen und Nullen fassbar. Und in diesem Hinter­land liegt 80 oder mehr Prozent unserer Arbeit als Dol­met­sche­­rin­­nen und Dolmetscher. Wir müssen uns ein­lesen, die Fakten aktiv abfragbar parat be­kom­­men, als stünden wir dem­nächst vor einer Prüfung.

Die Dolmetscheinsätze sind Prüfungen.

Oberhalb der Wasseroberfläche: Der Dolmetscheinsatz (ist nur die Spitze des Eisbergs). Unterhalb: Vorbereitungsmaterial für diesen Einsatz, einschlägiges Fachwissen; tiefere Wasserschicht: Allgemeinbildung, Fortbildung, Stressresistenz, Erfahrung, Dolmetschtechniken, Stimmschulung, Gedächtnis & Gehör; Tiefsee: Sprachkenntnisse.
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Hier links, wie sich das mit dem Eisberg in meinem Beruf verhält. Wir Dolmetscher allerdings fühlen uns in der Arbeit immer öfter durch Unwissenheit der Kunden be­droht, die nicht genau hinhören wollen, wenn wir erläutern, was wir brauchen, und denen das Internet vorgaukelt, alles und alle seien rund um die Uhr überall zu buchen. Echte Dolmetscher haben lang an den Grundlagen gearbeitet und sie sind ständig dabei, diese Grundlagen aufrecht zu erhalten.
Sichtbar wird nur ein kleiner Teil dieser Arbeit, was diese allgemeine Unwissenheit (gepaart mit echter Bewunderung, die uns regelmäßig zuteil wird) sicher zum Teil erklärt.

Die immer schneller werdenden Alltagsrhythmen und die Reduzierung von Spe­zia­li­sie­run­gen in den Büros tragen auch dazu bei. (Früher wurden wir vom Chef und der Chefsekretärin gebucht, heute gibt es kaum noch echte Sekretariate, son­dern "As­sistenzen" und "Kostenstellen" mit hoher Fluktuation).

Und weil ich nicht mehr jedes Mal aufs Neue alles wortreich erklären möchte, die Zeit nutze ich doch lieber zum Lernen, habe ich zum Pinsel gegriffen. 

So wird visuell klar: Fehlt das Fachvokabular des Kunden, kippt die Spitze genauso zur Seite weg, wie wenn Grundlagenwissen fehlt. Dolmetschen ist halt mehr als das Austauschen von Wörtern, von Einsen und Nullen.

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Illustration: C.E.

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