Sonntag, 15. März 2009

Jenseits der Rue de l'Odéon

Willkommen, bienvenue, welcome! Sie lesen in einem elektronischen Arbeitstagebuch einer Sprachmittlerin. Ich übersetze und dolmetsche in Berlin, Paris und dort, wo ich gebraucht werde.

Von heute an feiern die Franzosen mit der "semaine de la langue française" mal wieder ihre Sprache. Das Kulturministerium rief unter der Überschrift "Zehn Worte für morgen" dazu auf, Gedanken, Gedichte und derlei zu zehn Begriffen einzureichen und sie damit lebendig zu erhalten.

Eines davon ist "ailleurs" - woanders ... aber, wenn ich von der Phonetik ausgehe, mit "l'ailleurs" auch das "Jenseits". Bei diesem Wort wird das Schluss-S nicht gesprochen, was mich zu folgender Anekdote führt - die zwar in die Vergangenheit verweist, uns aber durch ein erlebtes Präsenz verstorbene Kulturschaffende lebendig erhalten kann. Mein "ailleurs" handelt von Gisèle Freund und James Joyce.

Es war einmal eine Praktikantin in einer eingemauerten Stadt, die machte bei einer Radiostation, die Sender Freies Berlin hieß, ihre ersten Schritte als Journalistin. Es war im Jahre eins vor neuer Zeitrechnung. (Die Stunde Null ist für viele Ost-West-Deutsche meiner Generation das Jahr 1989.)

Da kam eine berühmte Fotografin in die Stadt, die sogar Tochter der Stadt war und die einstmals, zu Beginn des braunen Zeitalters, von ihrem Studienort Frankfurt am Main vertrieben worden war. Daher hatte sie das Glück, in den 1930er Jahren viele Berühmtheiten in der französischen Hauptstadt kennenzulernen, in der sie bis zu ihrem Tode lebte.

Die Praktikantin war gespannt auf die alte Dame, meldete "ein Stück" an (auch "gebauter Beitrag" genannt) - und bekam die Zusage. Flau im Bauch und mit Sorgen wegen der Technik ging sie zum Termin. Abgesehen davon, dass die alte Rundfunktechnik (ein Marantz) prompt immer wieder kurze Aussetzer produzierte (kleine "Löcher" auf dem Tonband, auf dem stellenweise nichts drauf war), lief die Sache gut. Madame suchte immer wieder im Deutschen nach Worten, der Praktikantin ging's genauso, denn sie studierte in Paris und war nur in den Semesterferien in Berlin, was damals nicht die deutsche Hauptstadt war (allenfalls Hauptstadt der DDR). So soufflierte die Junge der Alten, animierte sie dazu, nochmal den ganzen Satz zu sagen, "für den Ton", fragte sie ein bisschen aus ... und brachte am Ende viel mehr mit nach Hause (oder in den Sender), als nötig gewesen wäre. Was schließlich doch gut war, siehe oben. Und nun kommt die Geschichte in der Geschichte. Gisèle Freund erzählte in etwa das:

Straßenschild Rue de l'Odéon
"Eines Tages sollte ich James Joyce fotografieren. Er war schon fast blind. Wir trafen uns in der rue de l'Odéon, im Buchladen "Shakespeare and Co." von Sylvia Beach und Adrienne Monnier. Er ließ sich gern fotografieren, er schien zwischendurch sogar meine Anwesenheit zu vergessen. Dann gingen wir auf die Straße. Dort fotografierte ich weiter, ihn alleine und mit Monnier. Erst beim Entwickeln sah ich, dass ich ein unvollständiges Ladenschild mitfotografiert hatte, dem "TAILLEUR" fehlt das "T", so steht da "AILLEURS". Das ist natürlich wunderbar für den Dichter des 'Ulysses'!"

"Tailleur" - das ist der Schneider. Und ob es ein Damen- oder Herrenschneider war, darüber klärt uns eines eines der Bilder auf: Klick! Wer mehr erfahren will: Gisèle Freund hat über die Fotosession das Büchlein "Drei Tage mit James Joyce" geschrieben (... das auf Deutsch antiquarisch vorliegt.)

Fassade Librairie Eug. RossignolSie war damals auch die offizielle Fotografin des amtierenden Präsidenten und hat der Praktikantin auch erzählt, wie sie ihm - der wegen seines kaum bewegten Gesichts den Spitznamen "Sphynx" trug - dennoch ein Lächeln abgeluchst hatte: "Erzählen Sie mir etwas über ihre Enkel!" Aber entweder hatte da die Marantz-Lochung zugeschlagen oder das Desinteresse für Regierende der Nachwuchsjournalistin, dieser Originalton fand beim Radiostück jedenfalls keine Verwendung, soit! - sei's drum. Und die Berichterstatterin traf Madame viele Jahre später für einen vermurksten Arte-Dreh. Das aber ist eine andere Geschichte.

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P.S.: Der Blogeintrag mit den vielen Schlüssen, hier ist noch einer,
immerhin geht der auf Anschluss mit dem vorigen Eintrag: Ja, als
Journalistin hatte ich eindeutig das spannendere Leben. Und ich
bin noch immer verärgert, dass "bei Mediens" für Recherche und
Programmmachen immer weniger Geld vorhanden ist, wodurch
ich fröhlich hineinkatapultiert wurde ins zweite Berufsleben, das
der Dolmetscherin.

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