Freitag, 23. Juni 2023

Das Endungs-i

Ob zu­fäl­lig oder ge­plant: Sie sind hier auf Sei­ten eines digi­talen Tage­buchs aus der Ar­beits­welt gelan­det. Ich bin (mit Deutsch als Mut­ter­spra­che) Dol­met­scherin für die fran­zösische Spra­che (und aus dem Eng­li­schen). Heu­te denke ich über die deutsche Sprache nach.

Gesehen in Nord-Neukölln
Zur Tee­pause bei Laura, einer frü­he­ren Stu­den­tin, die in­zwi­schen ein klei­nes Kind hat. Laura heißt na­tür­lich nicht so, in Wirk­lich­keit hat sie viel­leicht auch zwei klei­ne Kin­der oder ist ein Ex-Stu­dent und Pa­pa der­sel­ben, aber egal. Was ich hier schrei­be, ist nicht eins zu eins so ge­sche­hen, aber wahr­haftig, au­to­bio­fik­tio­nal eben.

Also: Laura tref­fe ich am Spät­nach­mit­tag zu­fäl­lig auf der Stra­ße. Wir freu­en uns bei­de und be­schlie­ßen, auf ih­rer Ter­ras­se ein we­nig zu­sam­men zu chil­len und über die Nuller Jah­re zu spre­chen, die Zeit nach dem 2000-er Bör­sen­krach und vor der Leh­man Bro-Plei­te, also et­was wie die gute alte Zeit, un­wie­der­bring­lich und so.

Wir be­fin­den uns in Nord-Neu­kölln im ru­hi­gen Hin­ter­hof, dort, wo Welt­kriegs­bom­ben einst für Ent­ker­nung und erst die Jah­re nach 2008 für Neu­bau ge­sorgt ha­ben. Laura und Mann le­ben mit Nach­wuchs in ei­nem Town­house dort, wo es frü­her drei Hin­ter­hö­fe gab, in de­nen zum Teil Werk­stät­ten stan­den und Fa­bri­ken klei­nen Ma­nu­fak­tu­ren ge­folg­t wa­ren. Auch die Town­hou­ses gibt es gleich mehr­fach: Es sind ei­gent­lich drei Häu­ser zu je drei bis vier Stock­wer­ken, ver­setzt an­ge­ord­net. Sowas wür­de heute kei­ner mehr ma­chen: die maxi­mal­mög­li­che Men­ge aus­küh­len­der Au­ßen­wän­de aus ener­gie­kri­sen­ver­träum­ten Zei­ten! Oben ha­ben die Woh­nun­gen Bal­ko­ne, ganz oben zwei rie­si­ge Dach­ter­ras­sen, un­ten Au­ßen­ter­ras­sen und bei Laura ist sie so­gar als Mai­son­et­te an­ge­legt, denn bei­de sind beim Film und ar­bei­ten von zu­hau­se aus. 

Wo einst Wasch- und Klo­haus stan­den und ne­ben den Asche­ton­nen ma­xi­mal die sprich­wört­li­che Zille-Blu­me wuchs, hat ein Land­schafts­gärt­ner ei­nen ja­pa­ni­schen Mi­nia­tur­gar­ten an­ge­legt. Auf der an­de­ren Seite ein äl­te­rer, ab­schließ­ba­rer "Car­port" für die Müll­ton­nen, über­wuchert mit Knö­te­rich und Efeu. Eine auf Zack ge­schnit­te­ne Thu­jen­hecke (Laura mur­melt ent­schul­di­gend: "Die hat der Bau­herr zu ver­ant­wor­ten!") ver­hin­dert den Durch­blick in den pri­va­ti­sier­ten Teil des Hin­ter­hof­gar­tens. Das Gan­ze wirkt teu­er, eng und ab­wei­send.

Mit klu­ger Pla­nung hät­ten hier ein Drit­tel mehr Woh­nun­gen Platz ge­fun­den, ohne mehr Be­stands­bau­ten zu ver­schat­ten, und es hät­te trotz­dem of­fe­ner ge­wirkt. Aber hier hat das Ka­pi­tal und nichts als das Ka­pi­tal Ei­gen­tums­woh­nun­gen zum Ver­kauf ge­baut, weder Bau­her­rin noch Bau­herr.

Die Woh­nung sei von den El­tern be­zahlt wor­den, er­zählt sie gleich, und die Mö­bel von den Groß­el­tern über­nom­men, zu­min­dest das schi­cke "Skandi"-Wohn­zim­mer aus Teak, Mid-cen­tu­ry, das in Lau­ras Ge­ne­ra­ti­on oh­ne­hin an­ge­sagt ist. Die Fa­mi­lie ha­be bei­der­seits in x-ter Ge­ne­ra­ti­on nur aus Staats­die­nern be­stan­den, Schule, Ver­wal­tung, Jus­tiz, er­zählt sie, nur ihre Ge­ne­ra­ti­on "macht ir­gend­was was mit Me­di­en", sagt sie mit iro­ni­schem Au­gen­win­kern.

Oh­ne, dass ich ge­fragt hät­te, be­rich­tet Laura wei­ter: "Das Geld ist in der Bran­che schwer ge­nug ver­dient. Ich schnei­de, er macht Ka­me­ra oder ar­bei­tet als Pro­du­cer. Wir muss­ten die Spiel­re­geln in die­ser Bran­che erst ler­nen. So ist es eine gro­ße Er­leich­te­rung, dass wir we­der Mie­te noch Wohn­geld zah­len müs­sen!" Dann kommt In­grid, die an­de­re Oma, die im Nach­bar­haus wohnt, und bringt den En­kel vor­bei.

Das klas­si­sche bil­dungs­bür­ger­li­che Mi­lieu, Müs­li plus Ea­mes-Chair, der Klas­si­ker: Der Jüngs­te darf nur kurz ans In­ter­net und wird spä­ter das Sand­männ­chen se­hen. Auf dem Mi­ni-Wie­sen­stück hin­ter der (für hei­mi­sches Ge­tier) to­ten Thu­ja blüht die bienen­freund­li­che Wie­se, an der Wand steht ein In­sek­ten­ho­tel. Soviel zur Empi­rie der Nach­barn, der ich mich im­mer wie­der ger­ne hin­ge­be. Oma In­grid, Ober­stu­di­en­rä­tin im Ru­he­stand mit war­mer Aus­strah­lung, bie­tet mir eine kos­ten­lo­se Feng Shui-Bera­tung mei­ner Woh­nung an (sie hat da ge­ra­de ir­gend­wo einen Ab­schluss er­wor­ben und braucht ers­te Be­wer­tun­gen für ih­ren In­ter­net­auf­tritt).

Nur wo kommt jetzt die­ses Di­mi­nu­tiv auf -i plötz­lich wie­der her? In mei­ner Kind­heit hie­ßen pein­li­che Nach­bar­kin­der Han­si oder Klau­si. Hier wird das Kind da­zu an­ge­hal­ten, sei­nen Schlafi zu ho­len, denn Omi wür­de ein Loch flicken, das T-Shi aus dem Kin­der­gar­ten sei voller Obst­fle­cken und dem Pa­pi wür­de man schnell ein Spra­chi aufs Händi schi­cken. Ver­dün­det dies, meine Ex-Stu­di, und ver­schwin­det in der Küche. 

An­schlie­ßend hat uns Lau­ra ganz nor­ma­len haus­ge­mach­ten Eis­tee ser­viert, deutsch aus­ge­spro­chen. War ich er­leich­tert! Ich war in Ge­dan­ken schon auf der Su­che nach schlim­men Pau­sen­s­nacks auf -i.

(Da hat doch wohl nicht das 50-er Jah­re Wohn­zim­mer ab­ge­färbt?)

______________________________
Foto:
C.E. (ne andere Hütte, aber ähnlich
wenig zur Berliner Wohnungsnot passend)

Keine Kommentare: