Derzeit nehme ich an einer Rhetorikfortbildung teil. Heute bekamen wir eine Geschichte erzählt und sollten diese visualisieren, uns also beim Hören Bilder dazu vorstellen.
Die Geschichte geht so: "Es ist Wetter. Ich gehe in den Wald. Ich gehe auf einem Waldweg. Auf dem Weg steht eine Tasse. Ich gehe weiter. Ich sehe einen Wasserlauf. Dann gehe ich den Weg zurück und komme zu einem Haus. Ich gehe um das Haus herum und sehe einen Bär. Ich gehe den Weg weiter. Ich komme zu einer Mauer. Die Mauer hat ein Loch. Ich sehe hindurch."
Danach erzählten die Teilnehmer, was sie vor dem inneren Auge sahen. Der Theaterpädagoge: "Es ist Herbst, ich gehe in den Wald, die Tasse und das Wasser sagen mir aber, dass es doch Sommer ist. Ich trinke aus dem Bach. Dann sehe ich mich um und entdecke ein Haus. Wer da wohl drin wohnt?"
Die Juristin: "Ich gehe in den Wald, er ist in Thüringen, meiner Heimat. Ich weiß nicht, wie ich dann doch wieder in den Berliner Wald komme. Ich gehe über den Weg, am Haus vorbei und komme zur Mauer. Es ist die Berliner Mauer, mit Loch in der Mitte. Ich sehe hindurch und blicke direkt auf die Spree."
Ich als Dolmetscherin: "Es ist Wetter. Ich gehe in den Wald. Ich gehe auf einem Waldweg. Auf dem Weg steht eine Tasse. Ich gehe weiter. Ich sehe einen Wasserlauf ..."
Ehrlich gesagt, komme ich mir ein wenig phantasielos vor, wie ich alles so wörtlich nachspreche. Auf der anderen Seite habe ich genau das gemacht, was für die Dolmetschkunden wichtig ist.
Visualisierungen dienen mir als Etappen einer Strecke. Ich habe die Etappen nicht ausgeschmückt, das hätte zu viel Energie gekostet, mir stattdessen die Worte und die Kargheit des Stils eingeprägt wie Schritte auf einem Waldweg, wie Kadenzen, die nach Geäst klingen, das unter dem Schuhwerk zerbricht.
Erst jetzt erlaube ich mir diese kleinen Freiheiten der Ausschmückung. Und ich weiß: Für die Zeit des Dolmetschens ist es gut, dass ich meine Phantasie gut der Sprache unterwerfen kann.
Foto: Fridolin Lützelschwab
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