Sonntag, 15. Juli 2018

Zeitreise

Guten Tag oder guten Abend! Sie sind mit­ten in ein Ar­beits­ta­ge­buch hinein­ge­ra­ten, in dem sich al­les um Spra­che, Dol­met­schen, Über­setzen und Kult­uren dreht. Als frei­be­ruf­li­che Sprach­mitt­lerin ar­bei­te ich in Pa­ris, Berlin, Toulouse, Frankfurt und dort, wo man mich braucht. Der Sonntag gehört dem Sonntagsbild!

Menschen am Sonntag, das kann auch bedeuten: Sommer­picknick auf einer Ber­li­ner Parkbank, auf der Bade­anzug und Bade­hose vor sich hin tropfen. Ein leichter Wind kommt auf und kühlt die noch nassen Haare im Nacken. Vor uns, auf dem Was­ser, prägen Kanuten und Freizeit­kapitäne das Bild. Wie kleine Goldstücke glit­zern späte Sonnen­strahlen auf dem Wasser.

Da promeniert eine Dame im Charles­ton­kleid und mit kleinem Stoh­hütchen mit fei­nem Lächeln an uns vorbei, wenig später folgt ein junger, schmaler Mann mit dun­kel­grauer Schiebermütze, braunen Knicker­bocker­hosen und blau­kariertem Hemd, am Ende schwebt ein dandy­haftes Etwas an uns vorüber — ist es ein Mann, ist es eine Frau? —, den zarten Leib in einen Seidenkimono gehüllt, dessen Blu­men­mus­ter farblich auf den buntbemalten Kegelhut abgestimmt ist. Von der an­de­ren Seite nä­hert sich ein Herr im sommerlich hellen Anzug. Er trägt ein Gram­mo­phon zu ei­ner dreistufigen Treppe, die auf eine ebene Rasenfläche führt, richtet den Laut­spre­cher aus, kurbelt und der Schlager “Ich glaub, Madame, Sie haben einen Schwips“ ist zu hören.

Eine Gruppe Tanzender im Stil der Impressionisten
Tanzabend im Freien
Jetzt wer­den Hüf­ten ge­schwenkt, Schritte gezählt, der Wind treibt Lachsalven übers Wasser, zurück kommt der feine Wellengang vom Bootsverkehr, er klatscht lei­se Beifall. Rasch sind meh­re­re Paare auf der Tanz­fläche. Der eine tritt seiner Holden auf den Fuß, sie löst sich aus der Umar­mung und hüpft flu­chend auf dem anderen Fuß zur Seite.

Der andere schiebt seine Dame gekonnt diagonal über die Tanz­fläche, seine Hand ist mitten auf ihrem Hintern ge­lan­det. Der impro­visierte Tanzlehrer lässt ihm das durchgehen. Der Knicker­bocker­jüng­ling, der zwischendurch die Schellackplatten wechselt, folgt auf­merk­sam den Instruktionen des Meisters. Seine Tanz­partnerin, ein rotblonder Bubikopf, hat deutlich mehr Erfahrung. Sie ist mindestens einen Kopf kleiner als er. Ihre kräftige Figur sitzt recht stamm im weißen Som­mer­kleid, das wie eine Wurst­schale kurz vor dem Auf­platzen wirkt. Es ist, als wären der lan­ge Dürre und die kleine Dicke von einer Zille-Zeichnung zum Leben erweckt wor­den.

Auf der Bank packe ich die mit­ge­brach­ten Metalldosen aus: Linsensalat mit Chi­corée, Champignons, Minze und Grapefruit, dazu Zitronenkuchen und Hei­del­bee­ren, Wasser und kühles Rad­ler vom Späti. Der Kopf schweift ab vom Schwim­men zur visuellen Zeitreise, die uns hier geschenkt wird. Aus der Erin­nerung tauchen Schnitt­mus­ter von Sommer­kleid­chen und Bade­moden aus den späten 1920-er Jah­ren auf, die meine Großmutter aus ihrer Jugend­zeit aufbewahrt hatte. Am Tanz­platz wird ein weiterer Foxtrott dieser Zeit auf­ge­legt: „Es zieht das Glück vor­bei.“ Ich denke an den weißen Hund mit den schwarzen Ohren, der sich auf dem Schel­lack­etikett dreht, an den Terrier, der den Kopf schräg hält und in den Schall­trich­ter hin­ein­sieht, als er die Stim­me seines Herrchens vernimmt, his master‘s voice.

Und irgendwann sortiert der Kopf das Gesehene, interpretiert es um. Ich stehe in Westberlin in einem holländischen Zirkuszelt von 1900, an der „Aus­spie­lung“, dem Monitor (auf Französisch le combo), hockt ein in den USA lebender Regisseur aus der Schweiz, der in Ber­lin Tucholsky ver­filmt, „Schloss Grips­holm“, und gibt seine Regie­an­wei­sun­gen nur über seine Assisten­ten weiter. Mein Bubikopf mit Was­ser­wel­le ergänzt das Charleston­kleidchen, das mir die Kostüm­bilderin her­aus­ge­sucht hat, aufs Schönste. Jasmin Taba­ta­bai singt, die Klez­mer-Combo swingt, ich sam­me­le Vokabeln der Film­her­stellung und wollte auch mal Amerikaner bei der Arbeit se­hen.

Ein Paar geht Arm in Arm
Promenade am See
Wieder­holt habe ich so als Kom­parsin gearbeitet zu Beginn meiner Sprach­arbeit im Film, in Frankreich und dann sogar auch direkt in den USA.

Die Kostü­mierten im Berliner Park des Som­­mers 2018 wirken auf mich wie bes­se­re Kom­parsen ohne Filmteam: Sie sind ein­be­stellt, die Kamera- und Toncrew hat sich im weit­läufigen Park verirrt, die Klein­­­dar­­stel­­ler scheren sich einen feuch­ten Keh­richt da­rum und haben ihren Spaß.

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Fotos: C.E. (Handyfotos am Abend, daher
unscharf, plus leichter Canvas-Effekt;
zum Vergrößern bitte anklicken)

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