Wer zwei Sprachen hat, der hat zwei Leben" lautet ein Sprichwort. Das wissen alle Menschen, die tiefer in eine Sprache eingestiegen sind, als es mit dem meist oberflächlichen Schulunterricht möglich ist. Auch große Städte wie Paris und Berlin erlauben es, sehr unterschiedliche Leben zu führen. Ein neues Viertel und ein anderer Job, das macht oft mehr aus, als ein anderer Lebensgefährte.
Für mich steigert sich das mit den Mehrfachleben, wenn ich Anfragen aus meiner alten Branche bekomme. Ausgebildet wurde ich parallel zum Studium als Journalistin, habe auch lange in dem Beruf gearbeitet. Gestern ging mal wieder ein vierzehntägiger Job als Rechercheurin zu Ende — wenn dann noch das mit den Sprachen hinzukommt, wie viel Leben ergibt das rechnerisch?
Am Anfang des Auftrags suchte ich im Netz Informationen und Ansprechpartner für einen Fernsehfilm über die Renaissance des jüdischen Lebens in Berlin, telefonierte, schrieb alles zusammen. Am Ende, gestern, saßen wir mit kanadischen Reportern und einem Mann von der Wachmannschaft der Synagoge im österreichischen Restaurant und feierten. Dazwischen lagen etliche Tage am Telefon, wobei ich auch viele Multiplikatoren finden und motivieren musste, bei Höflichkeitsbesuchen und am Set.
In Bewegung |
Und hier passierte, was überall passiert, wo es um Geld und Einfluss geht: es knirschte. Den Kanadiern geht es bei dem Bericht weniger um das Knirschen denn darum, die Buntheit abzubilden, in der jüdisches Leben in Berlin heute wieder Alltag ist. Und so betraten wir einen fast weltliche wirkenden Gemeindesal, in dem ein russischer Chor probte, waren in zwei Synagogen beim Laubhüttenfest mit dabei, trafen Schüler bei einem Quiz der Religionen, erkundeten die Klezmerschule, besuchten junge und ältere Menschen zu Hause, gingen zu einer Ausstellungser&öffnung von Fotos über den israelisch-palästinensischen Konflikt (*), zu einem Vortrag, tranken Kaffee im Beth Café im Osten, aßen koscher in einem kleinen Restaurant im Westen.
So viele Orte, so viele Ansprechpartner und Tage — damit alles bis zum letzten Tag klappt, arbeiten wir hier zu zweit. Denn für eine wäre der Job mehr als eine Doppelbelastung: für Recherche ebenso wie für die Kontakte, das Vertrauen der Zeitzeugen zuständig zu sein, für den Ablauf ebenso wie für die inhaltliche und sprachliche Richtigkeit, das bedeutet sonst: Keep running, keine Pausen, immer ist noch ein Anruf anhängig.
Fürs Filmteam übersetzen wir immer simultan, was nicht gefilmt wird, und konsekutiv, was später als O-Ton (Originalton) in den Film hineingeschnitten wird. Dazu machen wir uns natürlich auch Notizen, meine Kollegin Béatrice und ich. Am allerletzten Abend sitzen wir also alle im österreichischen Restaurant und feiern, ein Kontaktmann der Gemeinde ist dabei.
Wir haben alle Motive gedreht, alle Wunschinterviewpartner "gekriegt", dazu noch viele Bilder, von denen wir nicht zu träumen gewagt hatten. Auf der Suche nach Taxiquittungen fange ich an, meine Tasche zu erleichtern und zerknülle Notizenpapiere, unter anderem die Stichworte fürs Dolmetschen der Interviews.
Papierkugel |
Ich folge ihrem Blick und sehe am Ende der Sichtachse diesen Mann, der uns die letzten Türen geöffnet hat.
Es ist der Mann, der bei der Gemeinde für die Sicherheit zuständig ist. Und sehr langsam, wie beiläufig, nehme ich meine Papierkugeln vom Tisch. Denn so, wie die Notizen hier zusammengeknüllt sind — die Schrift sieht Steno ähnlich, ist aber stärker von horizontalen Linien geprägt, wobei ich die Buchstaben "i" und "è/é/ê" in Zusammenhang mit "m", "n" oder "u" nur noch durch i-Punkte oder Akzente antäusche, die über den zur Linie verflachten Wortteilen stehen — so, wie die gescribbelten Buchstaben da im Zufall des Papierknülls zusammenkommen, sieht das Ganze für den flüchtigen Blick verdammt nach arabischen Schriftzeichen aus.
Dass mir hier keiner auf falsche Gedanken kommt, von wegen Doppelleben und so...
(*) Die Ausstelllung More than 1000 words — no win situation in the israeli palestinian conflict, Fotografien von Ziv Koren ist noch bis zum 10.11. zu besichtigen, Ort: CiceroGalerie für politische Fotografie, Rosenthalerstraße 38, HH, 1. Stock
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Fotos: Friederike Elias