Sonntag, 30. September 2007

Doppelbelastung, doppelte Freude

Bonjour und guten Tag! Interessieren Sie sich für Dolmetschen und Übersetzen? Dann sind Sie hier auf meinen digitalen Tagebuchseiten goldrichtig.

Wer zwei Sprachen hat, der hat zwei Leben" lautet ein Sprichwort. Das wissen alle Menschen, die tiefer in eine Sprache eingestiegen sind, als es mit dem meist ober­fläch­li­chen Schulunterricht möglich ist. Auch große Städte wie Paris und Berlin er­lau­ben es, sehr unterschiedliche Leben zu führen. Ein neues Viertel und ein an­de­rer Job, das macht oft mehr aus, als ein an­de­rer Lebensgefährte.

Für mich steigert sich das mit den Mehrfachleben, wenn ich Anfragen aus meiner alten Branche bekomme. Ausgebildet wurde ich parallel zum Studium als Jour­na­lis­tin, habe auch lange in dem Beruf gearbeitet. Gestern ging mal wieder ein vier­zehn­tägiger Job als Rechercheurin zu Ende — wenn dann noch das mit den Spra­chen hinzukommt, wie viel Leben ergibt das rechnerisch?

Am Anfang des Auftrags suchte ich im Netz Informationen und Ansprechpartner für einen Fernsehfilm über die Renaissance des jüdischen Lebens in Berlin, te­le­fon­ierte, schrieb alles zusammen. Am Ende, gestern, saßen wir mit kanadischen Re­por­tern und einem Mann von der Wachmannschaft der Synagoge im öster­rei­chi­schen Restaurant und feierten. Dazwischen lagen etliche Tage am Telefon, wobei ich auch viele Multiplikatoren finden und motivieren musste, bei Höf­lich­keits­be­su­chen und am Set.

 In Bewegung
Das Thema scheint nur auf den ersten Blick einfach. Die alteingesessene Berliner jüdische Gemeinde in Charlottenburg war wohlhabend und einflussreich, dann kamen mit der Öff­nung der Mauer die "armen Schwestern und  Brü­der" aus dem Osten hinzu, hier meine ich jetzt durchaus sehr weit östlich, "Kon­tin­gent­flücht­lin­ge", also Menschen mit jüdischen Vor­fah­ren und ausländischem Pass und oft kaum vor­han­de­nen Deutsch­kennt­nis­sen.

Und hier passierte, was überall passiert, wo es um Geld und Einfluss geht: es knirschte. Den Kanadiern geht es bei dem Bericht weniger um das Knirschen denn darum, die Buntheit abzubilden, in der jüdisches Leben in Berlin heute wieder Alltag ist. Und so betraten wir einen fast weltliche wirkenden Gemeindesal, in dem ein russischer Chor probte, waren in zwei Synagogen beim Laubhüttenfest mit dabei, trafen Schüler bei einem Quiz der Religionen, erkundeten die Klez­mer­schu­le, besuchten junge und ältere Menschen zu Hause, gingen zu einer Aus­stel­lungs­er&öff­nung von Fotos über den israelisch-palästinensischen Konflikt (*), zu einem Vortrag, tranken Kaffee im Beth Café im Osten, aßen koscher in einem kleinen Restaurant im Westen.

So viele Orte, so viele Ansprechpartner und Tage — damit alles bis zum letzten Tag klappt, arbeiten wir hier zu zweit. Denn für eine wäre der Job mehr als eine Dop­pel­belastung: für Recherche ebenso wie für die Kontakte, das Vertrauen der Zeit­zeugen zuständig zu sein, für den Ablauf ebenso wie für die inhaltliche und sprach­li­che Richtigkeit, das bedeutet sonst: Keep running, keine Pausen, immer ist noch ein Anruf anhängig.

Fürs Filmteam übersetzen wir immer si­mul­tan, was nicht gefilmt wird, und kon­se­ku­tiv, was später als O-Ton (Originalton) in den Film hineingeschnitten wird. Dazu machen wir uns natürlich auch Notizen, meine Kollegin Béatrice und ich. Am al­ler­letzten Abend sitzen wir also alle im österreichischen Restaurant und feiern, ein Kontaktmann der Gemeinde ist dabei.

Wir haben alle Motive gedreht, alle Wunschinterviewpartner "gekriegt", dazu noch viele Bilder, von denen wir nicht zu träumen gewagt hatten. Auf der Suche nach Taxiquittungen fange ich an, meine Tasche zu erleichtern und zerknülle No­tizen­pa­pie­re, unter anderem die Stichworte fürs Dolmetschen der Interviews.

Papierknüll mit seltsamen Zeichen
Papierkugel
Wie sie so als Bällchen auf dem Tisch liegen, sehen sie ganz unscheinbar aus. Da erwische ich den Blick von meiner Schwester Frie­de­ri­ke, die zu Besuch in Berlin ist und uns heute begleitet hat. Sie fixiert mit starrem Blick den Papierknüll.
Ich folge ihrem Blick und sehe am Ende der Sichtachse diesen Mann, der uns die letzten Türen geöffnet hat.

Es ist der Mann, der bei der Gemeinde für die Sicherheit zuständig ist. Und sehr langsam, wie beiläufig, nehme ich meine Papierkugeln vom Tisch. Denn so, wie die Notizen hier zusammengeknüllt sind — die Schrift sieht Steno ähnlich, ist aber stärker von horizontalen Linien geprägt, wobei ich die Buchstaben "i" und "è/é/ê" in Zusammenhang mit "m", "n" oder "u" nur noch durch i-Punkte oder Akzente an­täu­sche, die über den zur Linie verflachten Wortteilen stehen — so, wie die ge­scrib­bel­ten Buchstaben da im Zufall des Papierknülls zusammenkommen, sieht das Ganze für den flüchtigen Blick verdammt nach arabischen Schriftzeichen aus.
Dass mir hier keiner auf falsche Gedanken kommt, von wegen Doppelleben und so...


(*) Die Ausstelllung More than 1000 words — no win situation in the israeli pa­lestin­ian conflict, Fotografien von Ziv Koren ist noch bis zum 10.11. zu besichtigen, Ort: CiceroGalerie für politische Fotografie, Rosenthalerstraße 38, HH, 1. Stock
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Fotos: Friederike Elias

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