Abends halb elf: Ich sitze neben einem Mann in der Bar und wäre hier lieber gemütlich, vielleicht in Flirtlaune. Der Mann aber hat müde Augen, er bestellt Wasser; nervös nestelt er am Handy rum. Den ganzen Tag hat er Journalisten Rede und Antwort gestanden, gleich soll er live ins Radio. Denn an der Fensterseite der Bar im CineMaxX-Kino an der Alten Potsdamer Straße steht ein gutgelaunter Knut Elstermann am Stehtisch vor Aufstellern mit Radio-Eins-Signet und plaudert munter mit einem hellwachen Wolfgang Becker. Der Mann neben mir ist Regisseur aus Frankreich, stumm blickt er vor sich hin und gähnt, als würde er gleich einschlafen.
Rachid Bouchareb hat den Film "London River" gedreht, der im Wettbewerb läuft. Er erzählt die Geschichte zweier Eltern mit sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, die 2005 in London ihre nach den Terroranschlägen verschollenen erwachsenen Kinder suchen. Der müde Mann neben mir weiß, was gleich auf ihn zukommt, er muss etwa acht Minuten geistige Präsenz liefern und dabei seinen Film "verkaufen".
Wir besprechen die Dolmetschart. Konsekutiv wird es sein, unsere Redeanteile wechseln sich ab wie Metallstückchen in einem Reißverschluss. Das Bild fällt mir spontan ein - wo alle Beteiligten müde sind (außer Knut), sollten wir uns nicht mit langen Wortstrecken quälen. Zweites Argument: In Berlin gibt es mit RFI einen französischen Sender, wir müssen uns akustisch abheben und im raschen Wechsel mit Deutsch senden.
Der Müde neben mir wirkt, als hätte er verstanden. Die Minuten vor dem Interview sind für mich voller Ungewissheit: habe ich mich verständlich mitgeteilt oder wird gleich "unter Adrenalin" der Redefluss mit dem Manne durchgehen wie ein ungebärdiger Gaul?
Jetzt stehen wir vorne, Knut hält uns im Wechsel das Mikro hin.
Die Fragen flüstere ich in Windeseile, und wenn Rachid fertiggesprochen hat, darf ich möglichst keine Pausen entstehen lassen, muss den letzten Gedanken auf dem Papier mit dem einen, treffenden Wort zusammenfassen.
Das ist nicht einfach, denn der Regisseur hat den ganzen Tag nichts gemacht als Fragen zu beantworten, er spricht geschliffen und pointiert.
Rücksprung: Es ist Mittag, ein anderes improvisiertes Studio. Langsamer kommen die Antworten Angela Schanelecs, die erst noch entwickelt, was sie sagt. Auf Wunsch der Redaktion von "Tout arrive" (France Inter) dolmetsche ich simultan. Ich sitze zwischen ihr und Romuald Karmakar, wir haben das Procedere besprochen, und doch hatte ich unterschätzt, dass die Fragen zu "Deutschland 09" für sie noch ungewohnt sind. Filmkritikerin Heike Hurst, die mitdiskutiert, kommentiert am Ende zurecht: "Das wäre ein Fall für konsekutives Dolmetschen gewesen."
Zurück in die Max-Bar. Nach dem nächtlichen Dolmetschen fallen Rachid die Augen zu, er legt sich schlafen. Mich erwarten am Tresen Christophe und Antoine, mit denen zusammen ich vor einigen Jahren einen Dokumentarfilm produziert habe. Ich bin gleichermaßen hundemüde und total überdreht.
Die Berichte aus der Wirklichkeit des Dokumentarfilmschaffens werden mich auf den Boden zurückholen.
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