Bonjour oder bonsoir auf den Seiten einer Spracharbeiterin. In diesem digitalen Tagebuch können Sie an einigen Tagen in der Woche mitlesen, was Dolmetscherinnen und Übersetzerinnen, Übersetzer und Dolmetscher so machen, und das seit 2007, im ersten deutschen Blog aus dem Inneren der Konferenzkabine.
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| "Kreativschreibtisch", der KI zufolge |
Was die KI nicht kann, wenn sie vorgibt, als Dolmetscherin tätig zu sein: unterschiedliche Klienten im Kopf haben, zum Teil bei ein- und demselben Panel. Wir menschlichen Dolmetscher:innen lernen in der Vorbereitung, bei Kaffeepause oder Mittagessen unsere Endkund:innen kennen, jene am Pult und auch jene im Saal, und wir suchen aktiv ihre Fragen. Wir sind daher imstande, die Sachverhalte zielgruppenorientiert zu übertragen, einigen uns untereinander auf die Fachbegriffe oder die Übertragung derselben, wenn wir es mit Laien zu tun haben, Beispiel:
Gentrifizierung.
Bei manchen Konferenzen denken wir nicht selten an zwei oder drei unterschiedliche Teilgruppen zugleich und freuen uns über Menschen am Podium, die zwischendurch mal tief durchatmen, etwas Wasser trinken oder einfach nur stumm ihre Hörerschaft anlächeln.
Wir empfehlen das auch schon mal bei sehr komplexen Themen und stark auseinanderklaffenden Realitäten, machen damit unsere Arbeit transparent, bitten um Minipausen. Das klappt vor allem bei Arbeitssitzungen oder seminarartigen Formaten. Sobald wir dann eine Zimtschnecke in die Luft malen, geht der Vortrag weiter. Dolmetschen ist Teamarbeit. Das Duo Podium/Kabine kommt in der Forschungsliteratur bislang kaum vor, weil wir alle noch dem Dogma der Unsichtbarkeit verfallen sind. Nicht erst, seit die KI unsere Arbeit bedroht, manche missverstehen sie aus Geldgier als Translationsapparat, müssen wir das ändern.
Und nochmal: Die KI ist ein Tool für die Hände der Profis, ohne unseren Eingriff reproduziert sie den Durchschnitt aller bereits publizierten Sätze in der automatischen Wort- oder Satzvervollständigung, die Sie vermutlich von Google oder vom Tippen von Kurznachrichten kennen, und sie denkt dabei weniger an die Zielgruppen noch daran, ob die vorgelegte Geschwindigkeit überhaupt von Humanoiden erfasst werden kann, wenn sich wegen eines Technikproblems die Bits und Bytes wieder mal im Rohr gestaut haben.
Zurück zum Termin. Durch diese Vorbereitung erfahren oder erahnen wir den Kenntnisstand unserer geneigten Hörerschaft, was unser Dolmetschen positiv beeinflusst. In der Arbeit wird dann ganz konkret, wie erst letzten Freitagnachmittag geschehen, aus dem Wort Ahrtal diese erklärende Verdolmetschung: la crue de l'Ahr qui a fait 150 morts en 2021, auf Deutsch: das Hochwasser der Ahr, das vor drei Jahren 150 Menschenleben gefordert hat.
Oder die beliebte Ganztagsschule, l'école du matin au soir, ce qui vaut être souligné car c'est rélativement récent en Allemagne. Hier hatte ich mal mehr Zeit für einen längeren Satz (oft müssen wir uns ja sehr kurz fassen). Auf Deutsch: Schule von morgens bis abends, das ist zu unterstreichen, denn es ist recht neu in Deutschland.
Nächstes Beispiel: Ehegattensplitting, le statut fiscal des couples mariés : en Allemagne, ces lois encouragent le mi-temps des femmes et non pas le temps plein, ins Deutsche rückübersetzt: Steuerstatus von Ehepaaren; in Deutschland fördert das Gesetz die Halbtagsarbeit von Frauen und nicht die Vollzeitarbeit. Stichwort auch hier: Subtext mitübertragen, da er für die Debatte relevant ist.
Und ja, das ist alles schon sehr interpretierend, aber wir möchten ja, dass die Gäste aus dem Ausland mitreden können. Prompt kommt als eine der nächsten Fragen aus Frankreich, man möge das Ehegattensplittingkonzept erläutern.
Als ich neulich darüber bei einem sozialen Netzwerk geschrieben habe und als Illustration meine Hand auf der Tastatur gezeigt habe, wie ich eine Übersetzung nachschlage und leider nur Unbrauchbares erhalte, wurde der Beitrag wegen Pornografie gelöscht und ich war drei Wochen lang gesperrt. (Igitt, eine nackte Frauenhand! Sind wir hier bei den Taliban?) Auch hier steckt die beliebte KI dahinter. Unter uns, und so war dann auch mein Kommentar, als ich wieder kommentieren konnte: "Tja, fb hat wohl nicht mehr alle Trinkgefäße im dafür vorgesehenen Möbel."
Solche Qualifizierungen sind KI-sicher, denn ohne Verdolmetschung verstehen das nur Muttersprachler:innen. Und als Illustration jetzt was anderes, aus dem Stehsatz von
pixlr! Denn das inkriminierte Bild hat das System gefressen!
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Illustration: pixlr.com (Prompt: "creative desk")