Montag, 22. Januar 2018

Großtischler

Hier bloggt eine Französischdolmetscherin. Der zweite Einsatz des Jahres führte mich mal wieder in die Botschaft Frankreichs am Pariser Platz.

großer Tisch, sprechende Hände
Konzentriert, nicht kopflos (man beachte die Steinquader)
In Büros und Arbeitszimmern gibt's die Menschen mit lee­­ren Schreib­ti­schen und die mit vol­len Schreib­ti­schen; Arbeitssoziologen und Auf­räum­­fach­­leute teilen die Welt in "Leer­tisch­ler" und "Voll­tischler" ein. Und jemand meinte sogar, dass Men­schen, die am Schreib­tisch nach der Methode der Plat­ten­tek­to­nik den Überblick be­hal­ten, Genies sein müssen.

Zu den Tischen in Besprechungsräumen gibt es noch keine Theorien. Diplomaten scheinen jedenfalls Großtischler zu sein. Mir fallen angesichts eines besonders mar­kan­ten Modells im Herzen Berlins Worte von sozialer Distanz ein. Dieses Modell signalisiert große räumliche Entfernungen. Unterschiede in Dis­tanz­be­dürf­nis­sen zu anderen sind auf die Zugehörigkeit zu Kasten, Schichten und sozialen Milieus zu­rück­zu­füh­ren, schießt es mir kurz durch den Kopf.

Mit näheren Momenten der Kontaktaufnahme versichern wir uns außerhalb des diplomatischen Parketts der Friedfertigkeit der Zeitgenossen, denen wir be­geg­nen. La bise, der französische Kuss, links und rechts auf die Wänglein gehaucht, ist im Grunde nur die olfaktorische Kontaktaufnahme, mit der wir uns absichern: Riecht der andere nach Angstschweiß oder eher nach Wut? Wird er friedlich bleiben?

Um weitere gemeinsame Grundlagen zu legen, essen und trinken die Menschen oft zusammen. Das klangvolle Anstoßen mit den Trinkgläsern diente einstmals der Prä­ven­tion vor Giftanschlägen: Es wurde üblicherweise mit so viel Schwung an­ge­sto­ßen, dass die Trinkgefäße übergeschwappt sind und dass aus dem Glase des einen Flüssigkeit in das Glas des anderen gelangt es und vice versa. Das war zu Zeiten, als die Mauern der Gebäude noch aus gestampftem Mist oder grob be­hauenen Stein­qua­dern be­­stan­­den haben.

In den Besprechungsräumen der französischen Botschaft kann derlei nicht pas­sie­ren. Viele kleine Fläschchen stehen auf Papierservietten an den jeweiligen Sitz­plätzen. Jede Form der Kontaktaufnahme, die über das Verbale hinausgeht, ist aus­ge­schlos­sen, Distanzlosigkeit ebenso. Der Tisch ist so breit, wie der Esstisch von kinderreichen Familien lang ist. Die große räumliche Entfernung macht es zu Be­ginn schwer, einander die Visitenkarten zukommen zu lassen. Alle beugen sich über die Platte, legen das Kärtchen auf die perfekt gewienerte Oberfläche, geben ihr einen großen Schubs, damit sie wie ein Schlittschuhläufer auf dem Eise an die ge­gen­über­lie­gende Seite segelt. Und meine Stimme muss auch lauter sein, als bei "Flüstereinsätzen" sonst üblich, um quer durch den Raum zu ge­langen.

Nein, keine weiteren Theorien. Ich muss jetzt weiter den Schreibtisch aufräumen. Etwas gegen die Kontinentaldrift tun. Wobei das mit der Genialität der Voll­tisch­ler in der Regel nur vorgetäuscht sei, meinen die Personalchefs.

______________________________  
Foto: C.E.

Keine Kommentare: