Mittwoch, 1. Februar 2017

Fahrt ins Blaue

Bonjour, hello, guten Tag. Hier bloggt eine Übersetzerin und Dolmetscherin (DE und FR). Englisch ist nur die Ausgangssprache, die sogenannte passive Sprache — und das auch nicht in allen Themen. Ich ar­bei­te in Berlin, Paris, Hei­del­berg, Mün­chen, Marseille und (fast) überall dort, wo Sie mich brauchen.

Vorgestern: Gepaukt, ins Blaue hinein, eine Tagung steht an und wir kennen das The­ma, die Namen der Redner, die Titel ihrer Beiträge. Wir erinnern die geneigten Tagungs­teilnehmer erneut schriftlich daran, uns doch bitte Informationsmaterial zur Ver­fü­gung zu stel­len. Bei der Arbeit ins Blaue hinein, zum Glück war ich im ersten Berufsleben Journalistin und kann recherchieren, landen wir bei ca. 50 A-4-Seiten Dokumen­tation und etwas mehr als 200 Fachbegriffen.

Alexanderplatz im Nebel
Suchbild mit Fernsehturm
Gestern: In einer anderen Sache bei der Behörde gewesen, mit schwarzem Ku­­­gel­schrei­ber geschrieben (dokumentenecht), es ging einige Stunden. Hinterher ein leich­ter Migräne­anfall. Kopf im Schraub­stock. Der Geruch von Kuli­tinte ist bei mir Mi­grä­ne­trig­ger. Der mö­blier­te Herr (*) in meiner Woh­nung hält das übrigens für Ko­ko­lo­res. Hat noch jemand davon gehört? Auf dem Rück­weg dann: Suchbild mit Fernseh­turm. Am Milchsuppenblick ist die Migräne nicht schuld. Später bei der Siesta wirkt das Schmerzmittel.
Anschließend weiter mit der Buch­über­setzung. Vor dem Schla­fen­ge­hen über­flie­ge ich nochmal das Re­cher­che­ma­te­rial für die Tagung.

Heute früh: Vorbereitung eines hohen Tages für eine Freundin, die morgen ihren Liebsten heiraten wird. Anruf beim Rathaus, in der Abteilung Ringe und Herzen bin ich inzwischen bekannt wie ein bunter Hund. Ich muss anmelden, dass das For­mu­lar zur Beeidigung rausgelegt wird, denn ich bin nicht gerichtlich beeidigt. Den Schnack: "In der Verordnung zur Ausführung des Personenstandsgesetzes, § 2, Ab­satz 2, wird die Beeidigung als Regelfall an erster Stelle genannt, die Hin­zu­zie­hung ei­nes nach den landesrecht­li­chen Vor­schriften allgemein beeidigten Kollegen wird nur ergänzend erwähnt, kann also keinesfalls als Regel gefordert werden" kann ich inzwischen im Schlaf runterbeten und komme meistens nur noch bis "Absatz 2".

Dann loseilen zur Tagung, der möblierte Herr hat Home office-Tag. Kurz bevor ich gehe, landen noch zwei Reden für den Vormittag in meinem digitalen Brief­kas­ten, zwei Reden von sechs erwarteten Papieren. Um's genau zu sagen: zwei Stun­den vor der Veranstaltung. Ich rechne: Eine Stunde Fahrtzeit inklusive Puffer, 30 Minuten vor­her da sein, ich kann also ein Drittel Tagung in 30 Minuten vorbereiten. Liebe Kun­den, bezahlt uns künftig bitte den doppelten Satz als Stresszulage und auch die Sänf­te mit Multimediaanschluss, die uns zum Tagungsort bringt. Ich verstehe nicht, was sich die Leute dabei denken. Und ich will es auch gar nicht verstehen müssen. Die Gesellschaft ist von Egozentrik und Kurzzeitdenken geprägt. Auch hier kann ich es ablesen.

Wir haben ins Blaue hineingearbeitet und haben den Kopf nachher hoffentlich nicht in der Milchsuppe, nur im ganz normalen Schraubstock.


Vokabelnotiz
Eine Fahrt ins Blaue lässt mich an Sommer denken ... es könnte auch eine Fahrt ins Grüne sein. Der blaue Himmel jedenfalls kontrastiert mit der Redensart "ins Blaue hinein", was "auf Verdacht", "aufs Geratewohl", "der Nase nach" bedeutet.
(*) "Möblierter Herr" ist ein etwas altertümlicher Ausdruck für Untermieter.
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Foto: C.E.

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