Dienstag, 27. September 2016

Lernen mit Monsieur H.

Bon­jour, hello, guten Tag! Hier bloggt ei­ne Fran­zö­sisch­dol­met­sche­rin und -über­set­ze­rin über ihren Alltag (Ich übersetze auch aus dem Englischen). Ich arbeite in Berlin, Köln, München, Hannover, Paris, Lyon, Avignon, Marseille und auch dort, wo Sie mich brauchen.
 
Zigarettenhand, Ascher, Gesicht spiegelt sich im Wasserglas
Typischer Parkaträger — schwimmt im Wasserglas
Mit Tabak hab ich's nicht so. Monsieur H. sitzt in der eben­er­di­gen Raucherlounge eines Berliner Hotels in dem Teil Berlins, den Leute ab Mitte 40 "Westberlin" nennen, gerne auch ergänzt mit "das alte Westberlin".

Unter dem Dach ist zwar für das Interview ein Salon reserviert, aber dort darf nicht geraucht wer­den.

In der Zigarrenlounge hingegen schnurrt, nein knurrt irgendwo ein lautstarker Ab­zug, der in die Decke eingelassen wurde. Er wirkt auf mich wie eine riesige Dunst­ab­zugs­hau­be. Die Bar hat noch nicht geöffnet, es wird aber "aufgebaut".

Ich habe als Ohrenmensch Scheu vor Lärm, vor klirrenden Flaschen und Gläsern und sonstigen Ge­räu­schen, die die Tonaufnahmegeräte jedes Mal kurz in den Schock­zu­stand versetzen, so dass es darauf ein kleines Loch gibt. Ginge es nach mir, würden wir uns für Interview und Aufzeichnung sofort nach oben zu­rück­zie­hen.

Es geht aber nicht nach mir. Auch der Fotograf zieht die Location unten vor. In Sa­chen Akustik kommen hier verschiedene Dinge zusammen: Der Interviewte hat keine Sprechausbildung genossen, er artikuliert deutlich zurückhaltender als Herr und Frau Jedermann. Zudem spricht er leise, raucht, hält die Fluppe zwischen den Lippen, nimmt oft die Hand vor den Mund. Hinzu kommt das ständige Klick­klick­klick des Fotografen, der sicher Hunderte von Aufnahmen schießt. Und schließlich wird dann neben dem Einräumen der Bar, die gleich geöffnet wird, auch noch die Jalousie runtergefahren, um die Licht­stim­mung für die Bilder zu verändern.

Ich konzentriere mich und bemühe mich, innerlich Ruhe zu bewahren. Die In­ter­vie­wer sprechen gutes Schulfranzösisch und verstehen nach eigenen Aussagen bis zu 80 % der Antworten. Mein Job wird nachher die "Trans-Ü" sein, Übersetzung statt Transkription, direkt in den Rechner hinein, Spracherkennungssoftware sei Dank. Im Interview wird Monsieur H. immer leiser und immer langsamer, sucht nach Wor­ten, sagt auch schon mal, und das gefällt mir ausgemacht gut: "Ich weiß es nicht, das ist meine ehrlichste Antwort!"

Zigarette (angebissen), angeschnitten das Gesicht
In Kette
Immer, wenn seine Stimme dünn wird, mache ich mir Notizen. Schreibe alles auf, worüber ich noch nachdenken muss. Lese von den Lippen ab, sofern das Sichtfeld frei ist. Manches zu leise Gesagte klärt sich durch den Nach­fol­ge­satz, Context rules. Am Ende frage ich exakt eine Stel­le nach, die ich trotz alledem nicht verstanden habe.

Es war der Satz J’étais un enfant raisonnablement heureux, ich war ein ei­ni­ger­ma­ßen glückliches Kind.

Dann ziehe ich um. Zunächst die gute Nachricht: Die Tonqualität ist sehr gut, nur ab und zu kommt es zu den befürchteten Effekten. Gerne lasse ich mich eines Besseren belehren. Und noch eine Feststellung darf ich treffen: Wie gut, dass wir nicht vorher hier unter dem Dach gelandet sind! Die Konferenzetage ist voll­ver­glast und ich fühle mich hier wie ein Pflänzchen, das noch wachsen muss. Ich neh­me Platz im Tropenklima bei 36 Grad im Schatten.

Nach zehn Minuten sind Rechner und ich heißgelaufen. Die Haustechnik in­ter­ve­niert, das Thermometer sinkt quälend langsam Richtung Dreißigermarke. Die hei­ße Bü­ro­tech­nik läuft weiter verzögert, blockiert. Ich frage nach einem an­de­ren Raum, doch das Haus ist ausgebucht. Ich lade einen anderen Player herunter, weil mein Tonschnittprogramm, an dem ich die Töne so schön als Gra­phen sehe, zu viel Rech­ner­ka­pa­zi­tät beansprucht. Jetzt wird es besser, aber noch nicht wirklich gut. Das Hin- und Herschalten zwischen den beiden nicht vernetzten Programmen bringt weiteren Zeitverlust mit sich. So schmeiße ich, drittes Lernmoment, sämt­li­che Einschätzungen über die Arbeitsdauer über den Haufen. (Hier hätte ich al­ler­dings wirklich gerne recht behalten.)

Wassergläser, Ascher, Raucher
Nachdenkpause, Zigarettenzug
Das Nachdenken über die rich­tige Formulierung gerät da fast zur Nebensache. Al­les, was ich fertigstelle, wird sofort vom Redakteur be­ar­bei­tet, der im schattigen Hof Platz genommen hat. Monsieur H. ist längst wieder zu Hause, als ich dem Re­dak­teur schließ­lich das Ende des Interviews dik­tie­re, damit die Redaktion ihren Text be­kommt.

Kühl weht der Abend zum Fenster herein. Die Klamotten riechen auch nicht mehr nach Qualm.

Vogelperspektive auf den Tisch
Nach dem Interview
Später sitzen der Redakteur und ich auf der Terrasse des Café Brel am Sa­vi­gny­platz beim Souper. Es geht auf Mit­ter­nacht, ich fröstele nicht trotz fehlenden Herbstmantels; Seidenbluse, Lei­nen­kos­tüm und Wollstola reichen völlig. Passend zum Tag löffeln wir Soupe à l'oignon, während anderswo die Zeitungspressen anrollen. Plötzlich kann ich über mich selbst lachen. Wie habe ich nur jemals erwägen können, dass es einen anderen Ort hätte geben können außer dieser Raucherlounge, um Michel Houellebecq zu interviewen? Zur Raucherin werde ich in meinem fortgeschrittenen Lebensalter trotzdem nicht mehr. 


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Fotos: C.E.

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