Montag, 10. Februar 2014

Berlinalegeflüster: Extreme

Hallo beim digitalen Arbeitstagebuch von der Dolmetschfront. Dieser Tage bin ich viel auf der Berlinale unterwegs.
 
Fünfter Berlinaletag, Mü­dig­keits­er­schein­ungen stellen sich ein. Die Stimme hält sich gut, zumal ich gestern Nacht exakt in dem Moment von der Party geflohen bin, als mit einem neuen Gästeschub viele Rau­cher die Location an der Spree besuchten. Tabakqualm ist für mein Organ das pure Gift, wes­halb ich nur sehr wenig auf Parties gehe.

Leider ballen sich immer mehr Interviewtermine in den ersten Festivaltagen zu­sam­men. Das verlängerte Wochenende ist der begehrteste Moment des Festivals. Sogar Interviews zu Filmen, die offiziell erst zu Wochenanfang laufen, werden Sams­tag oder Sonntag anberaumt.

Viele Journalisten stöhnen, die freien Journalisten besonders. Sie müssen ihre Ak­kre­di­tierung selbst bezahlen und können sie gar nicht mehr so amortisieren, wie sie es gewöhnt waren. Die oft sehr knappe Interviewplanung ist nämlich nur ein Teil. Das Filmesichten ist der andere. Etliche Werke (außer jenen, die im Wett­be­werb laufen) können schon in den Wochen vor dem Festival in eigens anberaumten Pressevorführungen gesehen werden, andere auf DVD oder per Streamingzugang. Aber manche Filme kommen eben erst mit Beginn des Festivals aus der Mischung, bei brandheißer Ware gibt es nur das echte Screening. Außerdem reagieren die Me­dien­ver­tre­ter auch auf heiße Tipps von Kollegen, denn schließlich schafft es nur ein Teil der vielen hundert Filme, die auf der Berlinale läufen, am Ende ins Kino.

Uns Dolmetschern geht es ähnlich schwierig. Freitag bis Sonntag hätte ich mich dreiteilen müssen, so gut war die Auftragslage. Montag und Dienstag kommt noch ein wenig hinterher, dann ist für mich die Berlinale offiziell schon zu Ende, was auch durch zwei Absagen verschärft wird. Mancher Star entscheidet sich auch gegen eine Filmpromo-Reise, ein anderer wurde leider bei seinem letzten Ber­lin­be­such von konkurrierenden Dolmetschamateuren abgeschreckt und zieht es jetzt vor, die Interviews gleich auf Englisch zu geben.

Das war mal anders. Einst dauerte die Berlinale auch für mich zehn Tage. Und da ich früher sogar noch am vorletzten Tag bei Verdolmetschungen von Pub­li­kums­ge­sprä­chen (*) neue, jobrelevante Kontakte gemacht habe, werde ich mich weiterhin viel unters Volk mischen.

Vielleicht richtet sich das Festival jetzt nach dem Filmmarkt, der fast schon wie­der zuende ist. Ausländische Verleih- und Vertriebsmenschen, die ich treffe, zei­gen sich enttäuscht ob des bislang eher schwachen Angebots und trösten mich zugleich, das wolle nichts heißen, oft ent­decke man kurz vor der Abreise noch Perlen. Ich berichte detailliert über die Pub­li­kums­re­aktionen eines bestimmten Berlinalefilms, den ich gesehen habe, so­wie über Alter und (mutmaßliche) Her­kunft der Zuschauer, soweit ich mir nach der Veranstaltung einen Eindruck davon verschaffen konnte. Nach dem Film war ich als eine der ersten draußen gewesen und hatte mir dann das Publikum genauer betrachtet.

Diese Angewohnheit habe ich mir in den Jahren zugelegt, in denen ich für den Wettbewerb Filme simultan eingesprochen habe, eine Dolmetschart, die dieses Jahr abgeschafft wurde. Um die Einsamkeit in der Ka­bi­ne zu kompensieren, hatte ich beim Einlass immer das he­rein­strö­mende Publikum be­ob­ach­tet, "Menschen tanken" nannte ich das scherzhaft.

Dieser Blick auf die Menschen nach der Vorführung ist noch einmal besser, denn sie stehen ja unter dem Eindruck des Films, ihre Gesichter sprechen oft Bände. Meine Verleiher hat's gefreut. Ansonsten standen heute Produktionsthemen auf dem Pro­gramm, die deutsche und französische Filmhersteller und -vertriebler glei­cher­ma­ßen interessieren.

Auch hier entwickeln sich die Exteme: Es gibt in meinen beiden "Arbeitsländern" deutlich mehr Filme, die mit extrem wenig Geld entstehen, und Großproduktionen lassen sich re­gel­mä­ßig mit sehr großen Budgets herstellen. Parallel dazu wird von Jahr zu Jahr die wirt­schaft­li­che Situation der Filme mittlerer Größe, les films du milieu, immer prekärer. Hierzu ein Link­tipp zu einem Interview in französischer Sprache mit Patrick Sobelman, für den ich auch schon gearbeitet habe Economie du cinéma : « Certains films aujourd’hui sont invisibles » ("Filmwirtschaft: Manche Filme sind heute unsichtbar") auf Rue89.

Der Tag neigt sich langsam dem Ende zu. Ich eile weg vom Potsdamer Platz, hin zum Spielort der Küchenberlinale: Kitchen Films, so könnte auch eine Film­pro­duk­tions­fir­ma heißen. Die Zuschauerreaktionen werden mir bei diesem Film fehlen. Die eine Ber­li­na­le­ein­sam­keit hat die andere abgelöst. Später eile ich noch in den Festivalpalast, ich freue mich auf echtes Publikum. Den anschließenden Empfang muss ich auslassen. In der zwei­ten Festivalhälfte ist es besonders wichtig, mit der Energie zu haushalten.


(*) die heute ausschließlich ins Englische verdolmetscht oder direkt auf Englisch geführt werden
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Fotos: C.E.

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